Anton Pawlowitsch Tschechow,

Photo aus dem Jahre 1899

(Photo aus Hans-Otto-Theater, S. 3, a.a.O.). 

Das Landhaus Tschechows in Melichowo; Landsitz Tschechows von 1892 – 1899 (Abb. aus Schaubühne – Sommergäste, Titelfoto)

 

 

Abb.: Sowjetische 20-Kopeken-Briefmarke zum 100. Geburtstag Tschechows; Tschechow vor seinem Haus auf der Krim

 

 

 

15. Juli 1904: Tod von Anton Pawlowitsch Tschechow, in Badenweiler

 

Am 29. Januar 1860 greg wurde Anton Pawlowisch Tschechow als Sohn eines armen Ladenbesitzers in Taganrog, einer Hafenstadt am Asowschen Meer, geboren. Anton wurde russisch-orthodox getauft, der Vater war sehr fromm und sehr streng.

Das erhalten gebliebene Geburtshaus (russ. „Домик Чехова) ist heute ein Tschechow-Museum.  

Sein Großvater war noch ein leibeigener Bauer gewesen, dem es 1815 gelang, sich und seine siebenköpfige Familie für eine beträchtliche Summe Geldes frei zu kaufen. 

1861 wurde die Leibeigenschaft in Rußland aufgehoben.

Anton war das dritte der sechs Geschwister. Die Jungen, Anton und seine beiden älteren Brüder Aleksandr und Nikolaj, mussten in dem dunklen stickig-feuchten Kellerladen mitarbeiten, die Öffnungszeiten waren von 5 Uhr morgens bis Mitternacht. In dem Laden wurde auch Wodka ausgeschenkt, im Winter wurde es im Laden so kalt, dass die Tinte gefror. Später meinte Anton, dass er als Kind keine Kindheit gehabt habe.

Anton Tschechow schrieb an seinen Bruder Aleksandr: „Despotismus und Lüge haben unsere Kindheit dermaßen vergällt, dass einem schlecht wird und man Angst hat, sich daran zu erinnern. Erinnere Dich an das Entsetzen und den Ekel, die wir empfanden, wenn Vater beim Essen einen Aufstand machte wegen einer versalzenen Suppe oder Mutter eine dumme Kuh nannte“ (Tschechow, zit. n. Renaissance-Theater, S. 7, a.a.O.).

Anton besuchte das Taganroger Klassische (Griechische) Gymnasium. Tschechow blieb zweimal sitzen; zeitweise konnte er die Schule nicht besuchen, da sein Vater das Schulgeld nicht bezahlen konnte. Später erhielt er einen Freiplatz im Gymnasium.

Tschechows Vater, Pawel Jegorowitsch Tschechow (1825 - 1898) brachte sich selbst das Geigenspielen bei, sang im Kirchenchor und wurde 1864 Chorleiter der Taganroger Kathedrale. Anton teilte den Fleiß seines Vaters und arbeitete sein Leben lang wie ein Besessener (vgl. Figes, S. 236 & 239, a.a.O.). Zeitlebens blieb Tschechow ohne fromm zu sein, kirchlichen Ritualen verbunden, sammelte Ikonen und hatte in seinem Haus in Jalta ein Kruzifix an der Schlafzimmerwand (vgl. Figes, S, 369, a.a.O.).

 

Der Vater wurde 1875 zum „Kaufmann der dritten Gilde“ [1] , d.h. Kramwarenhändler. 1876 aber wurde der überschuldete Laden des Vaters geschlossen, die Familie floh vor den Gläubigern nach Moskau.

Anton Tschechow aber blieb in Taganrog zurück, um das Gymnasium zu beenden; er erteilte (schlecht bezahlten) Nachhilfeunterricht und schickte sogar Geld zur Unterstützung der Familie nach Moskau.

Tschechow legte 1879 die Abschlussprüfung zum Abitur ab, in Russischer Sprache und Literatur, Religion, Geschichte, Latein, Griechisch, Mathematik, Physik, Geographie, Deutsch und Französisch.

Von der Stadt Taganrog erhielt er ein Studienstipendium von monatlich 25 Rubeln und zog nach Moskau.

Das ehemalige Gymnasium in Taganrog trägt heute den Namen „Anton Tschechow“ und ist ein Literatur-Museum. Der schulische Arbeitstisch Tschechows, die Aula und auch der Schul-Karzer, den Tschechow einige Male „besuchte“, sind erhalten geblieben.

1879 folgte Anton seiner Familie nach Moskau, wo er das Medizinstudium aufnahm. Gleichzeitig begann er aus finanzieller Not Kurzgeschichten zu schreiben, die in (humoristischen) Zeitschriften veröffentlicht wurden. Anton Tschechow war der erste bedeutende russische Schriftsteller, der nicht adlig war und aus der Boulevard-Presse kam. Sein berühmter knapper Stil ergab sich aus der Notwendigkeit, für lesende Pendler in den Zügen zu schreiben (vgl. Figes, S. 235, a.a.O.). Berühmt wurde Tschechows stilistischer Grundsatz: “Die Kunst zu schreiben besteht in der Kunst zu kürzen” (Tschechow, zit. in Gontscharow, Rudolf Marx, S. 381, a.a.O.).     

In Moskau lernte Tschechow bald auch die dortigen Elendsviertel kennen, „... und er blieb auch sein Leben lang Stammgast in den dortigen Bordellen“ (Figes, S. 234, a.a.O.).

 

Im Jahre 1884 konnte er das Medizinstudium beenden und erwarb das Ärztediplom; an seiner Wohnung ließ er ein Schild „Doktor A.P. Tschechow“ anbringen. Im Dezember hatte er erste Lungenblutungen, glaubte aber, es handele sich um geplatzte Gefäße.

Er fand eine Stelle als Arzt im Krankenhaus von Woskressensk bei Moskau und ein erster Band seiner Kurzgeschichten wurde veröffentlicht („Märchen der Melpomene“).

Im Dezember 1885  knüpfte er in St. Petersburg Kontakte zu Suworin [2], der ihm seine Zeitschrift »Novoje vremja« („Neue Zeiten“) öffnete und sein Verleger wurde. Tschechow wurde langsam der literarischen Öffentlichkeit bekannt.

Suworin gegenüber beschrieb er sich: „.. ein junger Mann, der Sohn eines Leibeigenen, früher Verkäufer, Sänger, Gymnasiast und Student, der in der Verehrung der Rangordnung, in der Verbeugung vor fremden Gedanken, im Handkuss für Priester erzogen wurde, der für jedes Stück Brot danken, der ohne Gummischuhe seinen Stunden nachlaufen musste, bei reichen Verwandten zu speisen liebte, der vor Gott und Menschen ohne jeden Anlass heuchelte – nur aus dem Bewusstsein seiner Minderwertigkeit -, .... wie ein solcher junger Mensch das Knechtische, Sklavische, tropfenweise aus sich herauspresst und wie er, als er eines Tages aufwacht, fühlt, dass in seinen Adern nicht mehr knechtisches, sondern richtiges menschliches Blut fließt“ (Tschechow, zit. n. Rudolf Marx, in Gontscharow, S. 381/82, a.a.O.).

 

Als im Jahre 1886 in Moskau eine Typhusepidemie ausbrach, behandelte Tschechow u.a. die erkrankte Mutter und drei Schwestern des mit ihm befreundeten Malers A.S. Jalow. Nachdem alle vier starben ließ er das Türschild an seiner Wohnung für immer abnehmen.

 

Im März 1886 erhielt Tschechow einen Brief des damals angesehenen Schriftstellers Dmitri Wassilijewitsch Grigorwitsch (1822 - 1900), den er in St. Petersburg kennengelernt und der Tschechows Erzählung „Die Steppe“ gelesen hatte. Der Brief wurde zu einem Schlüsselerlebnis und Motivationsschub für den jungen Tschechow. Darin hieß es u.a.: „Sie haben ein echtes Talent, ein Talent, das Sie hoch über den Kreis von Schriftstellern der neuen Generation hinaushebt“ (Tschechow, Briefe, Bd. I, S. 464 f., a.a.O.). Grigorwitsch beschwor ihn, sein Talent nicht für „literarische Quisquilien [3] zu verzetteln, sondern ... sich zu wahrhaft künstlerischen Unternehmungen zu sammeln“. Tschechow war betroffen und versprach, sich nicht mehr den Forderungen der „Gazetten“ zu unterwerfen, sich zur Literatur zu bekennen und unter seinem Namen zu publizieren.  

Tschechow kehrte 1886 nach Moskau zurück und eröffnete dort eine Arztpraxis. Er schrieb oft Tag und Nacht, wurde dabei als Schriftsteller immer erfolgreicher: 1888 erhielt er für den Erzählband  „In der Dämmerung“ den renommierten Puschkin-Preis der Petersburger Akademie der Wissenschaften, dotiert mit 500 Rubel.

Er betreute im Jahre 1889 seinen – an TBC - sterbenden Bruder Nikolaj und hielt sich anschließend längere Zeit in Odessa und Jalta auf. Zusammen mit Suworin reiste Tschechow 1891 für mehrere Wochen nach Italien und Paris.

Ebenfalls 1891 leitete Tschechow eine Hilfsorganisation gegen die Hungersnot im Gouvernement Nishni Nowgorod.

Im Jahre 1892 kaufte Tschechow ein Landhaus beim Dorf Melichowo (ca. 80 km südlich von Moskau). Er bewohnte das Haus dann von 1892 bis 1899, zusammen mit seinen Eltern und einigen Verwandten. Neben seiner Arbeit als Schriftsteller behandelte er unentgeltlich Bauern, ließ u.a. drei Schulen für Bauernkinder und eine Poststelle sowie Telegrafenlinie errichten. Einen Flügel des Anwesens ließ Tschechow zu einem Behandlungsraum umbauen. Auf einem Teil des Geländes von Melichowo wurden Heilpflanzen angebaut.

Auch engagierte sich Tschechow als Landarzt gegen eine drohende Choleraepidemie.

In Melichowo entstanden u.a. die Erzählung „Der Mensch im Futteral“, die Dramen „Die Möwe“ und „Onkel Wanja“. Heute ist das Landhaus das Tschechow-Museum Melichowo (russ. „Государственный литературно-мемориальный музей-заповедник А. П. Чехова Staatliches Schutzgebiet A.-P.-Tschechow-Literaturmuseum). Mehr oder weniger gut erhalten sind der Garten, sein Schlafzimmer und sein Arbeitszimmer. Die Melichowo benachbarte Stadt Lopasnja trägt seit 1954 den Namen „Tschechow“, die Fahne der Stadt zeigt eine fliegende Möwe.

 

An Tichonow skizzierte Tschechow selbst ironisch am 22. Februar 1892 seine Biographie : « Sie brauchen meine Biographie ? Da ist sie. Geboren wurde ich 1860 in Taganrog. 1879 beendete ich das Gymnasium in Taganrog. 1884 beendete ich das Studium an der Medizinischen Fakultät der Universität Moskau. 1888 bekam ich den Puschkin-Preis. 1890 unternahm ich eine Reise nach Sachalin durch Sibirien und zurück über das Meer. 1891 unternahm ich eine Tournee durch Europa, wo ich sehr guten Wein getrunken und Austern gegessen habe. 1892 habe ich mich mit V. A. Tichonow auf einem Namenstag amüsiert. Meine Erzählungsbände sind : « Bunte Erzählungen », « In der Dämmerung », Erzählungen », « Mürrische Menschen » und die Novelle « Das Duell ». Ich habe auch im dramatischen Fach gesündigt, wenn auch in Maßen. Bin in sämtliche Sprachen übersetzt, ausgenommen Fremdsprachen. Übrigens, die Deutschen haben mich schon längst übersetzt. Die Tschechen und Serben finden mich ebenfalls gut. Auch die Franzosen sind dem Austausch nicht abgeneigt. In die Mysterien der Liebe eingeweiht wurde ich, als ich 13 Jahre alt war. Mit meinen Kollegen – Medizinern wie Literaten – pflege ich ausgezeichnete Beziehungen. Junggeselle. Möchte eine Pension bekommen. Praktiziere als Arzt, und zwar so weit, dass ich im Sommer manchmal gerichtsmedizinische Obduktionen vornehme, die ich schon 2 bis 3 Jahre nicht mehr durchgeführt habe. Unter den Schriftstellern bevorzuge ich Tolstoi, unter den Ärzten – Zacharjin. Aber das ist alles Unfug. Schreiben Sie, was Sie wollen. Wo keine Fakten sind, ersetzen Sie sie durch Lyrik » (Tschechow, zit. n. Renaissance-Theater, S. 5, a.a.O.).

 

In der 1898 verfassten Erzählung „Der Mensch im Futteral“ beschrieb Tschechow, wie sich Rußland zur Zeit der Narodniki-Verfolgung in ein großes Gefängnis verwandelt hatte: „Man hatte Angst, laut zu sprechen, Briefe zu schicken, Bekanntschaften zu schließen, Bücher zu lesen, man hatte Angst, Armen zu helfen, Lesen und Schreiben zu lehren ...“, denn man wusste ja nicht, ob „etwas daraus entsteht“ (Tschechow, 1973, S. 201/202, a.a.O.).    

Im August 1895, als Tschechow von Lew Tolstoi auf sein Landgut Jasnaja Poljana eingeladen wurde, fand das erste Treffen Tschechows mit Tolstoi statt, beide Autoren schätzten sich. Weitere Treffen folgten 1897 - Tolstoi besuchte den gegen Tuberkulose kämpfenden Tschechow im Krankenhaus in Moskau -  sowie 1901 auf Tolstois Anwesen in Jalta. Tschechow selbst verehrte Tolstoi als Autor, fand aber Teile von dessen Philosophie problematisch. In einem Brief an Suworin vom 27. März 1894 schrieb Tschechow u.a.: „Die Tolstojsche Moral (hat) aufgehört mich zu rühren, im tiefsten Innern meines Herzens bin ich ihr gegenüber feindselig eingestellt  … In meinen Adern fließt Bauernblut, mit Bauerntugenden setzt mich darum niemand in Erstaunen. Ich habe von klein auf an den Fortschritt geglaubt und gar nicht anders gekonnt, als an ihn zu glauben, denn der Unterschied zwischen der Zeit, als ich geschlagen wurde, und der Zeit, als man aufhörte mich zu schlagen, war schrecklich  … Überlegung und Gerechtigkeitssinn sagen mir, dass in Elektrizität und Dampfkraft mehr Menschenliebe liegt als in Keuschheit und Ablehnung des Fleischgenusses“ (Tschechow, in Briefe, Bd. III.,  S. 133, a.a.O.).

 

Im Jahre 1897 kam es um Tschechows kurze Erzählung „Bauern“ zu einer stürmischen öffentlichen Debatte, denn Tschechow hatte den slawophilen Mythos des guten Bauern mehr als angekratzt. Er zeigte das bäuerliche Leben und die Dorfbewohner als vielfach arm, roh, schmutzig, unehrlich, ewig betrunken, streitlustig und gewalttätig, - sie lebten oft „schlimmer als das Vieh“. Vor allem die Slawophilen protestierten und hielten den Text für eine Verleumdung Russlands, Tolstoi nannte die Erzählung „eine Sünde am Volk“ – Tschechow habe den Bauern „nicht in die Seele geblickt“ (vgl. Figes, S. 279, a.a.O.).

 

Im Jahre 1899 muss Tschechow wegen der ihn quälenden Lungenkrankheit Melichowo verkaufen und – des Klimas wegen - auf die Krim, nach Jalta übersiedeln. Am 9. September 1899 zog er zusammen mit seiner Schwester Maria Maria Pawlowna („Mascha“, 1863–1957) und seiner Mutter in die weiße Datsche ein. Tschechow lebte dort bis zum 1. Mai 1904.

Heute ist das Gebäude in der Kirowstraße 112 das Tschechow-Museum Jalta (russ. Дом-музей А. П. Чехова в Ялте). Tschechows Schwester Maria Pawlowna („Mascha“), eine ausgebildete Geschichts- und Geographielehrerin - zuvor seine Haushälterin, Krankenschwester, Agentin und Geschäftsführerin - wurde nach seinem Tode die erste Direktorin des Tschechow-Museums Jalta. Die Inneneinrichtung des Hauses blieb dank ihres Einsatzes nahezu unverändert erhalten.

 

In dem Vorort Gurzuf (ukr. Hursuf) von Jalta kaufte Tschechow außerdem im Jahre 1900 ein Landhaus. Er schrieb an seine Schwester: „Ich habe in Gurzuf ein Stückchen Ufer gekauft mit Badestelle und Felsen, nicht weit vom Park und vom Schiffsanleger“ (vgl. Tschechow 1979, a.a.O.).

Auch dieses Haus - Tschechow-Datsche genannt - ist heute eine Gedenkstätte, das Tschechow-Museum Gurzuf, in der Uliza Tschechowa 22, auf einer Landzunge am Fuße einer malerischen Felsformation gelegen.

Wohl fühlte er sich in dem mediterranen Klima jedoch nicht, die lederblättrigen Pflanzen missfallen ihm, er hat Sehnsucht nach Schnee. Er nannte die Krim einen Ort seiner „Verbannung“, ein „warmes Sibirien“.

 

 

In Jalta befindet sich zudem ein Denkmal, das Tschechow und seine „Dame mit dem Hündchen“ aus der gleichnamigen, in Jalta speilenden Erzählung gewidmet ist. 

 

Die - nach dem 1882 das staatliche Theatermonopol aufgehoben wurde (Figes, S. 233, a.a.O.) - 1898 gegründete Avantgardebühne Moskauer Künstlertheater (MChT, von Московский художественный академический театр Moskauer Künstler–Akademiker Theater) unter der Leitung von Wladimir Iwanowitsch Nemirowitsch-Dantschenko (1858-1943) und Konstantin Sergejewitsch Aleksejew (mit Künstlernamen Stanislawski, 1863-1938) ist mit der umjubelten Premiere von „Die Möwe“ am 17. Dezember 1898 eng verbunden. Es kam zu einer engen Zusammenarbeit zwischen Tschechow und v.a. Stanislawski, auch „Onkel Wanja“ (1899), „Drei Schwestern“ (1901), „Der Kirschgarten“ (1904) und „Iwanow“ (1904) wurden von dem Kümstlertheater aufgeführt Sie wurden über viele Jahre gespielt und zählten zu den erfolgreichsten Produktionen des Theaters.

Seit 2004 heißt das Theater Tschechow-Kunsttheater Moskau (russ. Московский художественный театр им. А. П. Чехова).

 

Maxim Gorki (Peschkow, 1868–1936) begann 1898 einen umfangreich werdenden Briefwechsel mit Tschechow, dem schon berühmten Schriftsteller, den er verehrte, von dem er glaubte, niemand verstehe ihn besser als er (vgl. Schaubühne, S. 48, a.a.O.). Es existieren nicht weniger als neunzig Briefe, 51 von Gorki an Tschechow, 39 von Tschechow an Gorki (a.a.O.) 

Gorki sah 1889 in seiner Heimatstadt Nishni-Nowgorod Tschechows «Onkel Wanja», und meinte bewundernd: «Zum Teufel mit den Wanjas» und begann daraufhin mit der Arbeit an seinen «Sommergästen» [4], die « ohne den Einfluss von Tschechows ‘Onkel Wanja’ gar nicht denkbar wären » (Schaubühne, S. 48, a.a.O.).

An Tschechow schrieb Gorki : « Ihr ‘Onkel Wanja’ ; das ist eine vollkommen neue Art der dramatischen Kunst, ein Hammer, mit dem Sie den Menschen auf die leeren Schädel schlagen » (Gorki, Briefe, a.a.O.).  

1899: Erstes persönliches Zusammentreffen Tschechows mit Gorki, in Jalta. Der unter Polizeiaufsicht stehende Gorki hatte vom Innenminister die Erlaubnis erhalten, zur Kur (wegen der Tuberkulose Gorkis) zwei Monate nach Jalta zu fahren. Nach dem Zusammentreffen mit Tschechow schrieb Gorki im April 1899 an Tschechow: «Von allen Menschen, die ich gesehen habe, sind Sie, glaube ich, der erste, der frei ist und sich vor nichts verneigt » (Gorki, Briefe, a.a.O.). Gorki widmete 1899 Tschechow seinen ersten Roman « Foma Gordejew ».

Am 3. Februar 1900 schrieb Tschechow an Gorki: «... es kränkt mich so, dass ich schon vierzig bin, dass ich Asthma und allerlei Gebrechen habe, die mich hindern, frei zu leben» (Tschechow, Briefe, 1968, a.a.O.). 

Im Jahre 1900 wurde Tschechow die Ehrenmitgliedschaft der Russischen Akademie der Künste verliehen.

1901 heiratete er Olga Knipper, eine Schauspielerin des Moskauer Künstlertheaters, die aus einer deutschen Einwandererfamilie stammte und die er 1898 bei den Proben zur „Möwe“ kennengelernt hatte.

1902 verzichtete Tschechow (zusammen mit Wladimir Korolenko) auf die Akademiemitgliedschaft, als diese seinem Freund Maxim Gorki entzogen wurde– auf Geheiß des Zaren.

 

Zur Kur, der Behandlung der Tuberkulose fuhr 1904 Anton Tschechow mit seiner Frau Olga, aber er wusste, dass er sterben würde und teilte das –gelassen – auch Freunden brieflich mit. Im Juni 1904 zogen sie in das »Hotel Sommer«  im deutschen Kurort Badenweiler ein. Am 2 Juli Jul / 15. Juli Greg wachte Tschechow der Überlieferung nach in der Nacht mit Fieber auf, rief einen Arzt und sagte ihm, auf deutsch: „Ich sterbe. Der Arzt versuchte, ihn zu beruhigen, und entfernte sich. Tschechow bestellte sich eine Flasche Champagner, trank ein Glas, legte sich auf sein Bett und entschlief“ (Figes, S. 371, a.a.O.).

Tschechow wurde in Moskau auf dem Friedhof des Neuen Jungfrauenklosters beigesetzt.

 

Im Jahre 1905 unmittelbar nach dem frühen Tod Tschechows verfasste Gorki eine erste Fassung seines Tschechow-Porträts mit Worten, das er zehn Jahre später ergänzt. Zwischen 1920 und 1928 erschien eine erweiterte Fassung unter dem Titel „Erinnerungen an Tolstoi, Tschechow und Andrejew“. 1928 folgte eine erste erweiterte Übersetzung ins Deutsche unter dem Titel „Erinnerungen an Zeitgenossen“, die später mehrfach erneut aufgelegt wurde (vgl. Gorki, 1953, a.a.O.).   

 

Während der Revolution 1905 wurden in Russland Tausende der ländlichen „Adelsnester“ von Bauern in Brand gesteckt oder geplündert (vgl. Figes, S. 238, a.a.O.). 

 

Sachalin:

 

Seit 1855 wurde Sachalin von russischen Kolonialbeamten des Zaren verwaltet, oft genug wirtschafteten sie in die eigene Tasche und beuteten dabei vielfach die Einheimischen aus. Seit den 1870er Jahren erfolgte die Katorga [5] auch nach Sachalin, das so zu einer ca. 10 000 km von Moskau entfernten Gefängnisinsel wurde.

Schon 1889 hatte sich Tschechow entschlossen, selbst Sachalin zu besuchen, um den Nachrichten von dem unerträglichen Leben der dortigen Häftlinge auf den Grund zu gehen. Zudem war Tschechow der Meinung, dass  ein Stillstand in sein Leben gekommen sei und er sich „Feuer unterm Hintern“ machen müsse. 

Tschechows Verleger Alexej Suworin versuchte dem Schriftsteller die Reise auf die Insel ausreden: „Sachalin braucht niemand und ist auch für niemanden von Interesse". Tschechow entgegnete: „Sachalin nicht brauchen und uninteressant finden, kann nur eine Gesellschaft, die Menschen nicht zu Tausenden dorthin verbannt" (vgl.

Laffitte, a.a.O.).

Alexej Sergejewitsch Suworin war es allerdings auch, der Tschechow die Reise schließlich durch einen Vorschuss von 1000 Rubeln ermöglichte und ihm einen Journalistenausweis besorgte.

 

 

Tschechow machte sich im April 1890, zur Zeit der Schneeschmelze auf die mühsame, monatelange Reise quer durch Sibirien, noch vor dem Bau der Transsib (Baubeginn war 1891), z.T. mit der Eisenbahn bis zum Ural, dann zum großen Teil mit Pferdewagen - durch den Frühjahrsschlamm - , schließlich mit Dampfschiffen.

 

Tschechow hielt sich im Sommer 1890 drei Monate auf Sachalin auf, um die Situation der dortigen Strafkolonien kennenzulernen. Tschechow erhielt Zugang zu Gefängnissen, konnte mit sehr vielen Gefangenen sprechen, einer grausamen Prügelstrafe beiwohnen und auch Archivmaterial einsehen. Er befragte mit Hilfe einer selbst entworfenen und gedruckten Frage-Karteikarte nahezu Tausend Gefangene, notierte viele Details und arbeitete auf Sachalin bis zu 18 Stunden täglich.

Der Autor beschrieb nicht nur die unmenschliche, brutale Behandlung der Häftlinge, er erkannte zudem das widersprüchliche Besiedeungskonzept Sachalins durch das zaristische Russland: Denn die Verbannung und Zwangsarbeit sollten nicht nur bestrafen, einschüchtern, Besserung erzielen, sondern auch der Kolonisation bzw. der ökonomischen Ausbeutung der jeweiligen Region dienen.

Nach Ableisten der Strafe (meist 6 -10 Jahre) konnten die Strafgefangenen in den Bauernstand aufsteigen und auf der Insel oder nach Sibirien umsiedeln: Nach Russland zurück durften sie allerdings nicht.

Da da Klima auf der Insel hart, die Infrastruktur und die Versorgung schlecht waren, funktionierte die Kolonisation nicht gut. Viele der neuen Bauern wurden Opfer von Spielsucht und dem  Alkoholkonsum.
Tschechow prangerte an, die Besserung der Gefangenen werde dem Profitstreben geopfert:
„…(es) ist üblich, dassdie Armen und Einfältigen für sich und die anderen arbeiten, während die Falschspieler und die Wucherer Tee trinken, Karten spielen oder an der Anlagestelle umherwandern, mit den Ketten klirren, und sich mit den bestochenen Aufsehern unterhalten.“ (Tschechow, Sachalin, S. 181, a.a.O.).
„Das Gefängnis ist der unversöhnliche Gegner der Kolonie; beider Interessen stehen sich diametral gegenüber“.

Nach der Beobachtung Tschechows waren nicht nur die schwere Arbeit schlimm, sondern auch Ungerechtigkeit und Willkür:

  • viele der Aufseher verrohten genauso wie Gefangene
  • Aufseher würden vielfach das Auspeitschen der Gefangenen genießen
  • Akten würden verschwinden und Gerichtsverfahren willkürlich entschieden.

 

Tschechow beobachtete bei seinem Aufenthalt auf der Verbannungsinsel zudem: „Beamte mit niedrigem Gehalt gingen plötzlich in prachtvollen Zobelpelzen, während sich in den Behausungen der Giljaken [6] die Wodkaflaschen häuften“ (Tschechow, zit. nach „Wochenpost“, Nr. 11/1990, S. 19).

Die Kolonialbeamten verdrängten oft die Giljaken aus ihren angestammten Weide-, Jagd- und Fischreigebieten.

 

Auch die Lebensumstände der Frauen auf Sachalin fanden Tschechows Beachtung. Es gab einen ständigen Mangel an Frauen für die Kolonisation, Tschechow errechnete einen Frauenanteil von circa 25 % der Bevölkerung von Sachalin, ein für die Besiedlung ungünstiges Verhältnis.

Die Kommandanten baten öfter darum, Frauen nicht im Herbst zu schicken: Sie seien im Winter nur unnütze Esser und könnten nicht arbeiten. Prostitution war ein blühendes Geschäft.

Viele Frauen - beobachtete Tschechow - traten den Weg nach Sachalin freiwillig an, manche wollten ihre Männer oder Väter begleiten. Andere Frauen sahen ihre Lebensbedingungen auf dem Festland als nicht viel besser an. Frauen würden auf Sachalin, sofern sie freiwillig kommen, Geld besitzen und keine Strafe ableisten müssen, da es einen starken Frauenmangel gab, oft relativ gut behandelt.

 

Tschechow war von den Bedingungen auf Sachalin schockiert: „Solange ich auf Sachalin war, empfand ich im Inneren nur eine gewisse Bitterkeit, wie von ranziger Butter, jetzt dagegen, in der Erinnerung, erscheint mir Sachalin als die wahre Hölle. Zwei Monate habe ich angestrengt gearbeitet, im dritten Monat begann ich mich schwach zu fühlen von der erwähnten Bitterkeit, der Langeweile und dem Gedanken, daß die Cholera von Wladiwostock auf Sachalin übergreifen und ich auf diese Weise Gefahr laufen könnte, in der Katorga überwintern zu müssen…“ (Tschechow, in einem Brief an Suworin, in: Sachalin, S. 147, a.a.O.).

 

Für Tschechows gesamtes späteres Werk ist die Reise nach Sachalin eine mitentscheidende Prägung. Auch seine Gesundheit hat sich in den drei Monaten so gravierend verschlechtert, dass er 14 Jahre nach seiner Reise an Tuberkulose verstarb.

Tschechows Bericht „Die Insel Sachalin“ (a.a.O.) erschien 1895 und wurde ein aufsehenerregendes Buch: Die „Insel Sachalin“ wirkte als eine erschütternde Anklageschrift, mit der Tschechow Teile der russischen Gesellschaft, insbesondere die Intelligentsia aufrüttelte und auf das Elend der Strafgefangenen Sachalins aufmerksam machte.

Die russische Regierung entsandte in der Folge zur Überprüfung der von Tschechow berichteten Fakten eine Kommission auf die Verbannungsinsel, die Tschechow weitgehend bestätigte. Gewisse Erleichterungen für die Häftlinge wurden erlassen, aber wohl nur teilweise umgesetzt. 

So wurde – sicher unter dem Eindruck von Tschechows Bericht – im Jahre 1897 zuerst die Prügelstrafe für Frauen, dann 1904 auch für die Männer abgeschafft (vgl. Figes, S. 422, a.a.O.).

Für den britischen Historiker Orlando Figes (*1959) ist die „Insel Sachalin“ nicht nur „... eine bewegende Anklage des zaristischen Strafrechtssystems, sondern auch ein Meisterwerk der Reiseliteratur“ (Figes, S. 422, a.a.O.). 

Für den Rückweg nach Europa ab Oktober 1890 wählte der kranke Tschechow den weniger beschwerlichen Seeweg, über Wladiwostok, Hongkong, Singapur, Indien und Ceylon, dann durch das Rote Meer, den Suezkanal, über Konstantinopel nach Odessa - knapp zwei Monate Schiffsreise.  

Zurückgekehrt resümierte Tschechow, er sei „zufrieden bis an den Hals … Ich kann sagen: ich habe gelebt! Mir reicht es. Ich war in der Hölle, auf Sachalin, und im Paradies, d. h. auf der Insel Ceylon.“

Jahre später, am 15. Februar 1900 schrieb Tschechow an Gorki: „… wenn man Indien erlebt hat und die lange Seefahrt, dann hat man etwas, woran man sich bei Schlaflosigkeit erinnern kann“ (Tschechow, Briefe, 1968, a.a.O.).

 

Sträflingslager oder „Verbrecherkolonien“ gab es keineswegs nur in Rußland. Schon in der römischen Antike kam es häufig zur Verurteilung zur Zwangsarbeit. Man unterschied dabei zwischen einer Verurteilung zur Zwangsarbeit am opus publicum (z. B. am Straßenbau) und einer Verurteilung zur Zwangsarbeit in Bergwerken (ad metallum), z.B. in Blei- oder Silberbergwerken.

Im Römischen Recht galten nach der Todesstrafe die Verurteilung zur Bergwerksarbeit und danach die Deportation auf eine Insel als die schwersten Strafen (vgl. Huchthausen, S. 275, a.a.O.). Bei der Bergwerksarbeit wurden die Verurteilungen ersten und zweiten Grades unterschieden. Die Verurteilten zweiten Grades mussten schwerere Fesseln tragen (vgl. Huchthausen, S. 274, a.a.O.).

Im Codex Justinianus wurde unter 9.4.9.4. angeführt: „Der zur Bergwerksarbeit Verurteilte wird ein Strafsklave, und das Vermögen dessen, den ein solches Urteil trifft, wird vom Fiskus in Anspruch genommen“ (Härtel, S. 212, a.a.O.).      

Arbeitslager in entlegenen Gebieten, in denen Häftlinge ihre Strafe abbüßten, wurden im 18. und 19. Jhdt. von vielen Staaten gegründet, so auch von England und Frankreich. Strafkolonien lagen in der Regel fernab vom jeweiligen Mutterland, nicht nur in Sibirien, sondern auch in Nordamerika, Australien, Französisch-Guyana, besonders auf Inseln, (z.B. die Teufelsinsel, wo Alfred Dreyfus jahrelang lebte), um die Flucht von Gefangenen zu erschweren. Auch Guantanamo hat große Ähnlichkeit mit einer solchen Institution.

In den USA gibt es derzeit ca. 2 Mio. Strafgefangene, die meisten davon sind schwarz.

In Louisiana/USA gibt es die dort bekannte – plantagenähnliche – Haftanstalt „Angola“, in der Gefangene, überwiegend Schwarze, „... angekettet Obst und Gemüse an(bauen), die das Gefängnis auf dem Markt verkauft. All das unter der Aufsicht berittener und bewaffneter weißer Wärter“ (Federici, S. 18, a.a.O.).

Die italienisch-US-amerikanische Philosophin Silvia Federici (*1942) wies darauf hin, dass die Gefangenen in „Angola“ „... im Grunde dasselbe tun wie die Sklaven früher“ (Federici, S. 18, a.a.O.).

Durch das „Übereinkommen über Zwangs- und Pflichtarbeit der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) von 1930 wude die Zwangsarbeit verboten. Als Zwangsarbeit gilt jede unfreiwillige Arbeit oder Dienstleistung, die unter Androhung einer Strafe ausgeübt wird.

Der französische Philosoph Michel Foucault (1926 – 1984) veröffentlichte 1975 sein Buch „Überwachen und Strafen“ (a.a.O.); er ging von der These aus, dass sich aus der Art des Strafvollzugs Aussagen über die Gesamtverfassung einer Gesellschaft, ihren zivilisatorischen Standard ableiten lassen.

Leere/Trägheit/Langeweile

 

Wie ein Leitmotiv ziehen sich durch die russische Literatur der 2. Hälfte des 19. Jhdts. Leere, Trägheit und Langeweile, Nichtstun und Desinteresse, Verachtung der Arbeit bei dem russischen Bürgertum. Die Bauern und Handwerker hatten natürlich keine Zeit für Langeweile....  

Namensgebend wurde die Figur „Oblomow“ in Iwan Alexandrowitsch Gontscharows (1812-1891) gleichnamigem Roman, seinem 1859 veröffentlichten Hauptwerk [7]: Der Gutsbesitzer Oblomow plant immer wieder die schönsten, philanthropischen Aktivitäten, dann aber dreht er sich im Bett auf die andere Seite, schläft und tut nichts! Tschechow glaubte, der größte Fluch Russlands sei das wohlmeinende Geschwätz (Figen, S. 236, a.a.O.).

Dort, im Dorf Oblomowka, „... atmete ... alles die gleiche urtümliche Trägheit, die Einfalt der Sitten, die nämliche Ruhe und Unbeweglichleit“ (Gontscharow, S. 126, a.a.O.).

Schon Lenin klagte in einem Vortrag am 6. März 1922 „Über die internationale und innere Lage der Sowjetrepublik“.. über die Oblomowschtschina, die „Oblomowerei“, über eine alle Schichten erfassende Oblomowerei:

„Die Oblomows sind geblieben, ... weil der Oblomow nicht nur ein Gutsbesitzer war, sondern auch ein Bauer, und weil er nicht nur ein Bauer ist, sondern auch ein Intelligenzler war, sondern auch ein Arbeiter und Kommunist. Es genügt uns selbst anzuschauen, wie wir Sitzungen abhalten, wie wir in den Kommissionen arbeiten, um zu sagen, der alte Oblomow ist übrig geblieben, und man muss ihn waschen, reinigen, bürsten und schlagen, bis irgendein Sinn aus ihm herauskommt“ (Lenin, Sämtliche Werke, Bd. 33, S 209 ff.).

Orlando Figes hält es für möglich, dass die Monotonie der Landschaft, der Mangel an Anregungen und gegenseitigem Austausch zu der verbreiteten Oblomow- Haltung führen könnte (vgl. Figes, S. 429 f., a.a.O.).  

Leere, Trägheit und Langeweile, Nichtstun und Desinteresse sind auch Standardklagen in Tschechows Erzählungen und Dramen.

In „Onkel Wanja“ z.B. meinte der Arzt Astrow: „Jene, die hundert oder zweihundert Jahre nach uns leben werden und die uns deswegen verachten werden, daß wir unser Leben so dumm und geschmacklos vertan – jene werden vielleicht ein Mittel finden, wie man glücklich wird. ... In einigen zehn Jahren ... hat das Leben des Alltagsmenschen, hat das verächtliche Leben auch uns verschluckt; es hat mit seinen fauligen Ausdünstungen unser Blut vergiftet, und so wurden wir genauso banal wie alle“ (in Tschechow, 1960, S. 183/84, a.a.O.). Und weiter führte Astrow aus: „Und müßiges Leben kann nicht sauber sein“ (vgl. „Onkel Wanja“, in Tschechow, 1960, S. 165, a.a.O.)

Am 25. November 1892 schrieb Tschechow an seinen Verleger A.S. Suworin: „Wir haben weder Nah- noch Fernziele, unser Herz ist wie leergefegt. Wir haben keine Politik, an eine Revolution glauben wir nicht, wir haben keinen Gott, haben keine Angst vor Gespenstern, ich persönlich habe nicht einmal Angst vor dem Tod oder dem Erblinden. Wer nichts will, auf nichts hofft und vor nichts Angst hat, der kann kein Künstler sein. Ob dies eine Krankheit ist oder nicht – es geht nicht um die Bezeichnung, sondern um das Eingeständnis unserer Lage“ (Tschechow, zit. n. Renaissance-Theater, S. 6, a.a.O.).

 

In seiner letzten Erzählung “Die Braut” – sie erschien im Dezember 1903 – kritisierte der an Tuberkulose kranke Künstler Sascha der verlobten, wohlhabenden Braut Nadja gegenüber, das Leben in dem großbürgerlichen Haus: “Weiß der Teufel, niemand tut hier etwas! Mamachen geht den ganzen Tag lang wie eine Herzogin spazieren, die Großmutter tut auch nichts. Sie ebenfalls nicht. Und der Bräutigam Andrej Andrejitsch tut auch nichts. ... Man muß begreifen, wie unsauber, wie unsittlich dieses müßige Leben ist . ... Wenn zum Beispiel Sie und Ihre Mutter und Ihre Großmutter nichts tun, so bedeutet dies, daß jemand anders für sie arbeitet, daß Sie ein fremdes Leben aussaugen, und ist das etwa anständig, ist das nicht schmutzig?” (Tschechow 1977, Die Braut, S. 342 & 347, a.a.O.). Sascha beschwor Nadja:Meine Liebe, meine Gute, fahren sie fort! Zeigen Sie allen, daß Sie dieses unbeweglichen, grauen, miserablen Lebens überdrüssig sind! Zeigen sie es wenigstens sich selbst! .... Ich schwöre Ihnen, Sie werden es nicht bedauern und nicht bereuen. … Sie werden studieren… Sobald Sie ihr Leben umgestaltet haben, wird alles anders. Die Hauptsache ist – das Leben umgestalten, alles andere ist unwichtig” (Tschechow 1977, Die Braut,  S. 347 & 354, a.a.O.).  

Nadja folgte dem Rat, entzog sich der geplanten Hochzeit, dem ungeliebten Bräutigam und begann in St. Petersburg zu studieren. Sascha aber starb bald – an der Tuberkulose.   

In einer Lesung von “Die Braut” wandte sich einer der Zuhörer an den Autor: “’Anton Pawlowitsch, so gehen die Mädchen nicht in die Revolution. Und Mädchen wie Ihre Nadja gehen nicht in die Revolution’. Tschechow soll darauf vielsagend erwidert haben: ‘Dorthin führen verschiedene Wege’” (zit. n. Düwel, in Tschechow 1977, S. 382, a.a.O.).

Gorki gegenüber äußerte Tschechow : « Wir hoffen darauf, dass das Leben in zweihundert Jahren besser sein wird., aber keiner bemüht sich darum, dass dieser besser schon morgen eintritt » (Tschechow, zit. n. Schaubühne, S. 48, a.a.O.). 

Dabei führte Tschechow selbst  eine „vita activa“, soweit es ihm seine Gesundheit erlaubte. Tschechow scheint selbst daran geglaubt zu haben, dass Arbeit und Wissenschaft in der Lage seien, das Leben der Menschen zu verbessern (vgl. Figes, S. 370, a.a.O.).  

Natur

 

Weniger bekannt ist, dass Tschechow auch ein leidenschaftlicher Liebhaber der Natur, der Gärten und Bäume war, sich in seinem Werk ein wahrer Alarmruf zur Rettung der Wälder und des Klimas findet, er ein Vorkämpfer der Ökologie – avant le lettre – war.

In den Briefen Tschechows thematisierte er oft die Natur, die Wälder, ihre Schönheit und die Ruhe, die sie verströmen (vgl. Salino, a.a.O.), ganz ähnlich wie bei Adalbert Stifter (1805 - 1868), allerdings nie in dessen Länge.  

Die Figur „Michail Lwowitsch Astrow“ in Tschechows 1896 verfassten Drama „Onkel Wanja – Bilder aus dem Landleben“ erinnert in vieler Hinsicht an den Dichter selbst: Astrow ist Arzt, er ist unermüdlich unterwegs, die Landschaft durchstreifend, fortwährend das unendliche Elend zu lindern –und er liebt die Bäume (vgl. Salino, a.a.O.). 

Astrow beschreibt seine Tätigkeit selbst: „Ich besitze nur ein kleines Gütchen, alles in allem dreißig Desjatinen [8], doch ... einen mustergültigen Garten und eine Baumschule, wie Sie sie tausend Werst [9] im Umkreis nicht finden werden. Nebenan liegt die staatliche Forstwirtschaft. ... Der Förster ist alt, er ist immerfort krank, so dass ich tatsächlich die ganzen Geschäfte führe“ (Onkel Wanja, in Tschechow 1960, S. 135, a.a.O.).

Als einer der im Gutshaus Anwesenden Astrow fragt, ob es ihm denn erlaubt sei, „... damit fortzufahren, meinen Ofen mit Holz zu heizen und Schuppen aus Holz zu errichten“, antwortete der Arzt: „Du kannst deine Öfen mit Torf heizen und deine Schuppen aus Stein errichten. Schön, ich will zulassen, dass man Holz aus Not schlägt, doch warum es ganz ausrotten? Die russischen Wälder krachen nur so unter den Beilschlägen, Milliarden von Bäumen werden vernichtet, die Behausungen von Tieren und Vögeln werden zerstört, Flüsse versiegen und trocknen aus, es verschwinden auf Nimmerwiedersehen die herrlichsten Landschaften, und alles nur, weil den trägen Menschen nicht in den Sinn kommt, sich zu bücken und Heizmaterial von der Erde aufzulesen. ... Man muss ein unvernünftiger Barbar sein, solche Schönheit in seinem Ofen zu verbrennen und das zu zerstören, was wir nicht neu zu erschaffen vermögen. Der Mensch ist ... mit Verstand und Schaffenskraft begabt, .... allein bis jetzt hat er sich noch nicht an das Schaffen gemacht, sondern immer nur zerstört. Die Wälder werden weniger und weniger, die Flüsse trocknen aus, das Wild zieht fort, das Klima wird verderben, und mit jedem Tag wird die Erde immer ärmer und hässlicher ... Und es mag sein, dass dies alles nur Narrheit ist, doch wenn ich so langsam längs der Bauernwälder gehe, die ich vorm Abholzen errette, oder wenn ich höre, wie mein junger Wald rauscht, den ich mit eigenen Händen gepflanzt, dann erkenne ich, wie das Klima ein wenig auch in meiner Macht liegt“ (Onkel Wanja, in Tschechow 1960, S. 156, a.a.O.).

Die junge, in den Arzt verliebte Sonja hält seine Arbeiten für „... ungewöhnlich interessant. Michail Lvovitsch pflanzt jedes Jahr neue Waldungen, ... Er sorgt sich sehr darum, dass die alten Wälder nicht ganz ausgerottet werden. ... Er sagt, dass Wälder die Erde verschönen und dass sie den Menschen lehren, das Schöne zu verstehen, und ihm erhabene Stimmungen einflößen. Wälder vermögen das rauhe Klima zu mildern...“ (Onkel Wanja, in Tschechow 1960, S. 155/56, a.a.O.).

Astrow zeigt Sonja eine von ihm angefertigte Karte mit den Veränderung im Landkreis während der vergangenen 50 Jahre, mit den gesamten Verlusten an Wäldern, Wasserläufen, Flora und Fauna – eine Zerstörung ohne gleichen  (Onkel Wanja, in Tschechow 1960, S. 173, a.a.O.).

Den anderen Bewohnern des Gutshauses in „Onkel Wanja“ erscheint die Arbeit Astrows als eine Laune, eine Schrulle, sie hören ihm, wenn er von seinen Bäumen spricht, nur mehr oder weniger zu.  

 

In Tschechows 1903 geschriebenem Stück „Der Kirschgarten“ ist der weißblühende Kirschgarten, verbunden mit allerlei Kindheitserinnerungen, die Hauptfigur. Aber der Kirschgarten muss aus finanziellen Gründen verkauft werden, der Käufer wird ihn abholzen und dort profitable Ferienhäuser bauen lassen. Schon im 1. Akt des «Kirschgartens» will der Kaufmann Lopachin « ... alles was hier alt ist, abreißen, ... den alten Kirschgarten abholzen » (in Tschechow, 1960, S. 263, a.a.O.). Das Beil, das Dr. Astrow in „Onkel Wanja“ fürchtet, beginnt am Schluss des „Kirschgartens“ die dortigen Bäume zu fällen (Der Kirschgarten, in Tschechow 1960, S. 309, a.a.O.).

Der Garten-Liebhaber Tschechow ließ auf seinem Anwesen in Jalta Dutzende junger Bäume – Maulbeeren, Kirschen, MandelbäumeZypressenZitronenbäumeAkazien und Birken setzen – eine Erinnerung an die nördliche Heimat.

 

Seine (männlichen)  russischen Landsleute beurteilte Tschechow ironisch-kritisch: „Ganz Rußland ist ein Land gieriger und träger Menschen: sie essen schrecklich viel, trinken, schlafen am Tage und schnarchen im Schlaf. Sie heiraten um der häuslichen Ordnung willen und schaffen sich, um in der Gesellschaft etwas zu gelten, eine Geliebte an. Ihre Psychologie ist die der Hunde: schlägt man sie, dann winseln sie leise und verkriechen sich in ihre Löcher, streichelt man sie, dann legen sie sich auf den Rücken, strecken die Pfötchen in die Luft und wedeln mit dem Schwanz…“ (Tschechow, zit. n. Hans-Otto-Theater, S. 6, a.a.O.).  

Hoffnungslos aber scheint Tschechow nicht gewesen zu sein. In seinem Drama „Drei Schwestern“ (geschrieben 1900) meinte eine der Hauptfiguren, der Leutnant Baron Tusenbach: „Denn die Zeit ist gekommen, auf uns alle bewegt sich etwas Riesiges zu, es sammelt sich ein mächtiger und gewalttätiger Sturm, der heraufzieht, er ist schon sehr nah, und bald wird er von unserer Gesellschaft die ganze Trägheit fortblasen, die Gleichgültigkeit, das Vorurteil wider die Arbeit und all die faulige Langeweile“ („Drei Schwestern“, in Tschechow 1960, S. 196, a.a.O.).

 

1983 wurde der Asteroid (2369) nach Tschechow benannt.

 

(unveränderlich, nach dem Gregorianischen Kalender

 

© Christian Meyer


[1] Kaufleute folgten im altrussischen Ständestaat (halbprivilegiert) dem Adel und dem Klerus. Alle Kaufleute waren in Gilden (den Berufsvereinigungen, russ. гильдия) vereint, von denen es seit der Gildenreform von 1775 drei gab, je nach dem deklarierten Kapital:  

  • Die erste Gilde - 10 000 Rubel
  • Die zweiten Gilde - 1000 Rubel.
  • Die dritte Gilde - 500 Rubel.

Für die Aufnahme in eine Gilde musste eine Gebühr von 1 % des Kapitals entrichtet werden.

[2] Alexej Sergejewitsch Suworin (1834 – 1912) war ein russischer Publizist, Verleger, Buchhändler und Theaterleiter, mit dem Tschechow lange Zeit eng befreundet war und dem er viele Briefe sandte. Anfangs war Suworin eher fortschrittlich eingestellt und er arbeitete z.B. für die von Puschkin gegründete oppositionelle Zeitschrift „Sowremennik“ ( Der Zeitgenosse). Später erwarb er die immer einflussreicher werdende Zeitschrift „ Novoje vremja“, in der viele Werke Tschechows veröffentlicht wurden. Mit den Jahren wurde Suworin jedoch immer konservativer, chauvinistischer und antisemitisch. Im Jahre 1899 kam es zum Bruch zwischen beiden.  

Nach der Fertigstellung des „Kirschgartens“ schrieb Tschechow an seine Frau, er würde selbst für 100 000 Rubel die Aufführungsrechte nicht dem Theater Suworins überlassen. Begraben wurde Suworin in seiner Heimatstadt St. Petersburg.

[3] Lat: quisquilia  Belanglosigkeit, Unbedeutendes

[4] Für Maxim Gorki soll der „Sommergast“ der „... nutzloseste und sogar der schädlichste Mensch auf der Erde“ gewesen sein. Er komme auf die Datscha, überhäufe alles mit Müll und fährt wieder weg. Die überall herumliegenden Papierschnitzel, Konservendosen etc. der vorjährigen Benutzer des Sommerhauses erzürnten Gorki (vgl. Schaubühne, S. 43, a.a.O.).

[5] Die Katorga (vom gr. κρατεϊν , kratein »zwingen«), Zwangsarbeit, war die schwerste Strafe unter den Zaren - nach der Todesstrafe; der Sträfling verlor seine Rechte, wurde zeitweise gebranntmarkt, verbannt  (Ssylka  Verbannung) und hatte die Zwangsarbeit  v.a. in Sibirien zu leisten. Der Transport an der Verbannungsort erfolgte lange Zeit in bewachten Häftlingsgruppen, zu Fuß in Tagesetappen von ca. 30 km. Auch nach Ablauf der Strafzeit durfte man nicht ins europäische Russland zurückkehren, sondern mussten den Rest seines Lebens in der Verbannung bleiben.

Die Strafkolonie auf Sachalin existierte bis 1905, als Rußland Südsachalin an Japan abtreten musste. Seit 1945 gehört ganz Sachalin wieder zur Sowjetunion bzw. zu Rußland. Bis 1954 gab es zwei Gefangenenlager mit bis zu 15 000 Insassen im Rahmen des Gulag auf Sachalin.  

In Lutz Seilers (*1963) auf Hiddensee spielendem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman „Kruso“ verurteilte der sowjetische General (und Vater Krusos) in dem „Russenstädtchen Nr. 7“ deliquente Rotarmisten zu „drei Jahren Sachalin“ oder „zehn Jahren Omsk“ (vgl. Seiler, S. 193, a.a.O.).

[6] Giljaken ist die alte russische Bezeichnung für die einheimische Bevölkerung Sachalins, Heute werden sie „Niwchen“ genannt und sind nur noch eine kleine Minderheit von ca. 2500 Personen unter den ca. 670 000 Bewohnern Sachalins.

[7] Die in der Literatur angegebene Erzählung „Oblomows Traum“ (a.a.O.) war von Gontscharow lange zuvor, bereits im Jahre 1849 in der Zeitschrift „Der Zeitgenosse“ (Sowremennik) veröffentlicht worden.

[8]  1 Desjatine = 1,1 ha. Das russische Flächenmaß Desjatine wurde 1918 zugunsten der Hektar etc abgeschafft.

[9]  1 Werst = 1,0668 km: Die russische Längeneinheit Werst wurde 1918  zugunsten der Kilometer abgeschafft. 

 

 

Abb.: Isaac Iljitsch Lewitan: „Die Wladimirka“, 1892; der jüdisch-russische Maler und langjährige Freund Tschechows Isaak Lewitan (1861 - 1900) malte die Straße, die von Moskau über Wladimir nach Sibirien führte, über die viele Jahre lang die neuen Häftlinge mit klirrenden Ketten in die Verbannung nach Sibirien getrieben wurden. Bei einem Jagdausflug kam Lewitan auf die berühmte Straße bei Boldino/Gouvernement Wladimir. Als er es bemerkte, rief Lewitan seinen Jagdgenossen zu: „Halt! Das ist die Wladimirka, auf der so viele Menschen auf ihrer langen Wanderung nach Sibirien gestorben sind“ (Lewitan, zit. n. Figes, S. 427, a.a.O.). Als das Bild entstand, wurden die Strafgefangenen bereits mit der Bahn zur Zwangsarbeit transportiert.

Wegen seiner jüdischen Herkunft war Lewitan 1879 für einige Zeit von der Polizei aus Moskau in die „Ansiedlungsgebiete“ ausgewiesen worden (allein aus Moskau waren es insgesamt ca. 20 000 Juden; vgl Dimont, S. 318, a.a.O.). Seit seiner Umbettung 1941 liegt sein Grab auch auf dem Friedhof dem Neuen Jungfrauen-Kloster, nahe dem Tschechows. Heute befindet sich das Bild Lewitans in der Moskauer Tretjakow-Galerie. Lewitan hatte das Bild  Pawel Tretjakow geschenkt (Abb. aus Figes, Farbtafel Nr. 23, o.S., a.a.O.).

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Abb. „Tschechow in Jalta“; zeitgenössische Photographie des zaristischen Hofphotographen Fat. Orlow (Postkarte des Tschechow-Museums in Jalta)

 

 

 

 

1990 wurde Tschechow anlässlich seines 130. Geburtstags mit einer sowjetischen 1-Rubel-Kupfer-Nickel-Gedenkmünze geehrt

 

 

Tschechow-Collage von dem französischen Künstler André Sanchez (*1972): Man erkennt u.a. eine Landkarte mit Teilen der Halbinsel Krim, eine sowjetische Tschechow-Briefmarke, sein Landhaus in Melichowo und die weißen Kirschblüten aus dem "Kirschgarten"; im Zentrum aber steht ein Baum, im Boden verwurzelt, davor ein ärztliches Abhörgerät, - erinnernd an die Schwindsucht, an der der Arzt Tschechow 1904 starb, im Alter von nur 44 Jahren  (Abb. aus der "Le Monde", 21. Juli 2020, S. 21).  Der französische Arzt René Laënnec (1781 -1826) erfand 1819 ein erstes einfaches Stethoskop (gr. "stethos"  Brust, also ca. „Brustüberwacher“). Laënnec starb im Alter von erst 45 Jahren - an Tuberkulose.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Abb. Tschechows Grab auf dem Friedhof des Neuen Jungfrauen-Klosters