Abb. „Häuserkampf in Bazeilles“: In diesem französischen Ardennendorf südöstlich von Sedan kam es am 1. September 1870 zwischen bayerischen und französischen Einheiten zu blutigen Häuserkämpfen mit mehr als 7000 Toten; sie gelten als die ersten „modernen Häuserkämpfe“ der Militärgeschichte. An den Kämpfen in Bazeilles beteiligten sich auch bewaffnete Einwohner, als Franc-Tireurs, Partisanen; sie beschossen und töteten eine Reihe bayerischen Soldaten, die daraufhin die Häuser anzündeten, aus denen sie beschossen wurden. Schon am Mittag des 1. September stand ganz Bazeilles in Flammen. Gefangene Franc-Tireurs wurden später als illegale Kämpfer hingerichtet. Für Schlachtenmaler und Illustratoren des späten 19. Jhdts. war der Kampf um Bazeilles ein beliebtes Motiv. Zeitgenössische Darstellung von dem deutschen Historienmaler Carl Röchling (1855-1920). (Abb. aus:  https://www.reseau-canope.fr/musee/collections/fr/museum/mne/n-16-bataille-de-sedan-1er-septembre-1870-defense-de-bazeilles).

2. September: Grundtvig-Gedenktag in Dänemark – Sedantag im deutschen Kaiserreich

 

Am 2. September 1872 starb der in Dänemark hochverehrte dänische protestantische Theologe, Bauernlehrer, nordische Mystiker und Dichter Nicolai Frederik Severin Grundtvig in Kopenhagen. Als Bischof trat er für die Volkskirche mit freien Wahlgemeinden ein und gründete in Rødding die erste dänische Volkshochschule. Grundtvig war auch Verfasser von Kirchenliedern und Historiker. Nach der dänischen Niederlage auf den Düppeler Schanzen 1864 rief er die dänische Bevölkerung zu einem Neuanfang auf: „’Was wir draußen verloren haben, müssen wir drinnen gewinnen!’ Der Satz hallt bis heute nach. Grundtvigs Volkskirche und Volkshochschule gelten als Wurzeln des dänischen Sozialsystems“ (zit. n. Christian Wernicke, in „Die Zeit“, Nr. 39 /2000, S. 3).  

Zu seinem Gedächtnis wurde von 1921-40 im Kopenhagener Stadtteil Bispebjerg nach Plänen von P. V. Jensen - Klint die Grundtvigskirche errichtet. Ihr Turm hat eine eigenartige, wie eine überdimensionierte dänische Dorfkirche wirkende, auch an ein Orgelprospekt erinnernde Fassade.

(Abb. Grundtvigskirche – Im Vergleich zu einer seeländischen Dorfkirche ??)

 

Ebenfalls am 2. September wurde während des deutschen Kaiserreiches der „Sedantag“ gefeiert, zur Erinnerung an die „siegreiche“ Schlacht von Sedan [1] .

Am 1./2. September 1870 besiegten die vereinigten deutschen Armeen bei der Festung Sedan die eingekesselte kaiserlich französische Armee. Napoleon III. und die Armee kapitulierten schließlich und wurden gefangen genommen, - das war das Ende des Zweiten Kaiserreiches. Bereits am 4. September 1870 wurde in Paris die Dritte Republik ausgerufen.   

Lily Braun (1865 – 1916) berichtete in ihrer Autobiographie, dass sie als Fünfzehnjährige 1879 „… mit Hurra schrie bei jeder Siegesnachricht und die Illuminationskerzen nach dem Fall von Sedan mit in die sandgefüllten Gläser steckte“ (Braun, 1909, Bd. I, S. 25, a.a.O.).

Im Juni 1892 veröffentlichte Émile Zola – nach intensiven Vorstudien [2] -  seinen Roman „La débacle“ („Der Zusammenbruch“, a.a.O.), in dessen Zentrum die Schlacht von Sedan steht.

Zola beschrieb das sinnlose Grauen des Krieges, auch aus der Perspektive der leidenden, gequälten, zu Tode geängstigten Soldaten, desgleichen jedoch auch die Unorientiertheit und Unfähigkeit der Generale oder die Planlosigkeit des Stabes.

Vielfach wurde Zolas Beschreibung der Schlacht von Sedan hoch gelobt, als umfassender als die Schilderung der Schlacht von Waterloo in Stendhals „Kartause von Parma“ oder der Schlacht von Borodino in Tolstois „Krieg und Frieden“.

 

Rasch nach der Reichsgründung am 18. Januar 1871 in Versailles wurde vielfach die Einrichtung eines gemeinsamen, nationalen Feiertags gefordert. Es lag nahe, den Tag der Schlacht von Sedan als Gedenktag, als Stiftungstag des Reiches vorzuschlagen. „Sedan“ galt als der Sieg des „Volkes in Waffen“ und sollte so zum Nationalfeiertag werden, nicht etwa der Tag der Reichsgründung am 18. Januar 1871 (vgl. Pfeil, S. 30, a.a.O.). Kaiser Wilhelm I. zögerte jedoch: Er strebte statt verordneter Feiern spontane Gedenkfeiern innerhalb der Bevölkerung an, ähnlich wie die Feiern zur Erinnerung an die „Völkerschlacht“ bei Leipzig (vgl.ð 18. Oktober).

Schon im Juni 1872 schlug der westfälische, lutherische Theologe Friedrich Wilhelm von Bodelschwingh (1831 – 1910) den 2. September als Datum für ein Dank- und Friedensfest vor: „Gefeiert werden (sollte) mit dem Absingen patriotischer Lieder, Freudenfeuern und Glockengeläut, mit Umzügen der Veteranen und Offiziere, begleitet von der ‚Ortsobrigkeit‘, durch festlich geschmückte Straßen hin zur Kirche, anschließend das Mittagsmahl im Familienkreis und dann wieder Musikkapellen, Festreden sowie Volksbelustigungen aller Art im Freien“ (zit. n. https://linksabbieger.net/2021/01/08/sedanstrasse-umbenennen/).

Der Düsseldorfer Historiker Christoph Nonn (*1964) betonte: „Der Sedantag wurde aber nie offizieller Feiertag … Es war ein beliebtes, teils anti­französisches Volksfest mit Veteranenaufmärschen, das im Lauf der Zeit an Popularität verlor“ (vgl. TAZ, https://taz.de/Erinnerung-an-die-Sedan-Schlacht-1870/!5738754/). 

Unter Kaiser Wilhelm I. blieb der Sedantag v.a. ein Erinnerungs- und Ehrentag der Armee.

Der Sedantag erlangte so nie deutschlandweit amtlichen Charakter, da Wilhelm I. ihn nicht zum offiziellen Feiertag machen wollte. Diese Strategie hatte auch gewissen Erfolg, denn bereits bis 1873 setzte sich der Sedantag mehr und mehr als Feiertag durch. 

Gefeiert wurde mit dem Singen „patriotischer“ Lieder, mit Freudenfeuern, Volksbelustigungen verschiedenster Art, Glockengeläut, mit Umzügen der Turner, Veteranen und Kriegervereine. Die Straßen und öffentlichen Gebäude waren festlich geschmückt, in vielen (v.a. protestantischen) Kirchen wurden Lobreden, Dankesgebete und Predigten gehalten.

Kaiser Wilhelm I. ließ ab 1873 alljährlich anlässlich des Sedantages eine aufwändige Militärparade des Gardekorps veranstalten, für ihn war der 2. September vor allem ein „Ehrentag“ der (preußischen) Armee.

Vor allem in der Zeit des chinesischen „Boxeraufstandes“ wurde der Sedantag z.T. für unzeitgemäß gehalten, denn in China kämpften französische und deutsche Truppen gemeinsam.

Auf Anordnung des preußischen Kultusministeriums wurde der Sedantag seit 1873 durch Festveranstaltungen an Schulen und Universitäten gefeiert. In Preußen besaß er den Charakter eines offiziellen Erinnerungstages an den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71.

Seither war nicht nur in Preußen für viele Schüler der Sedantag ein Höhepunkt des Schuljahres. Gedenkfeiern mit erinnernden Reden, „vaterländischen“ Liedern, Sedansfeuer und Tanzveranstaltungen wurden organisiert, sportliche Wettspiele etc. Vielfach wurde der Ablauf der Schlacht an Schulen nachgespielt, - häufig war das eine Art vormilitärische Übung.  Oft wurden auch sog. Sedansbrezeln verteilt, die in großen Behältern bereitgestellt wurden.

In vielen deutschen, insbesondere preußischen Städten wurden am Sedantag Kriegsdenkmäler oder Bismarcktürme etc. eingeweiht.

Viele deutsche Juden waren begeisterte Reichsbürger. Am Sedantag hingen vielfach an jüdischen Häusern Flaggen, außerdem wurden in Synagogen wie in den evangelischen Kirchen Gedenkgottesdienst gehalten.

Allerdings gab es auch heftige Abwehr und Ablehnung des Sedantages, und das nicht nur bei den Sozialdemokraten, die in dem Feiertag eine Manifestation des aggressiven Militarismus und Hurra – Patriotismus sahen.

Welfisch gesinnte Kreise in Hannover lehnten den Tag als preußisch ab, viele Katholiken sahen in dem Sedantag v.a. während der „Kulturkampfes“ ein Symbol des Borussismus und boykottierten die Feiern.

Der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler verbot im Jahre 1874 deshalb sogar das Glockenläuten am 2. September.

 

Der „glänzende“ Sieg bei Sedan wurde im Deutschland des Zweiten, Wilhelminischen Kaiserreiches zu einer Art Gründungsmythos des neuen deutschen Kaiserreiches. Fritz Fischer schrieb zur Bedeutung des militärisch – dynastischen Faktors im Nationalbewusstsein des deutschen Kaiserreiches: „Die Reichsgründung selbst erschien im Bewusstsein des Volkes fast ausschließlich als die Frucht dreier ‚siegreicher Kriege’. Die Staatsfeiertage, der Sedantag als Symbol des Sieges über Frankreich und Kaisers Geburtstag (Wilhelm II., 27. Januar 1859), waren lebendiger Ausdruck dieses Selbstverständnisses des Kaiserreiches“ (Fritz Fischer, 1962, S. 16, a.a.O.).

Herfried Münkler betonte, dass der Gründungsmythos von Sedan „… entscheidend zur inneren Militarisierung Deutschlands beitrug… Der Gründungsmythos von Sedan … stellte heraus, dass in schwierigen Zeiten nur militärisches Agieren politisch erfolgreich sei. Die Orientierung der bürgerlichen Schichten am Militär, das Reserveleutnantspatent als Zugangsvoraussetzung für Karrieren im Staatsdienst, schließlich das Ausgreifen der militärischen Disziplin bis in die Organisationsstrukturen der Sozialdemokratie hinein – das alles spiegelte sich im Gründungsmythos von Sedan“ (Münkler, 2007, S. 165, a.a.O.).  

 

Die Berliner Siegessäule wurde - symbolträchtig – am 3. Jahrestag der Schlacht bei Sedan im Jahre 1873 eingeweiht.

Eine Fülle von Sedanstraßen wurde zwischen 1870 und 1914 benannt oder umbenannt. Es gab über 100 Sedanstraßen, so in Berlin–Steglitz (1888) [3], in Kiel (1900) oder in Hamburg (1899), sowie u.a. in München, Lünen, Wuppertal, Essen, Hildesheim, Osnabrück, Ulm, Elze und Erlangen. Umbenannt aber wurden Sedanstraßen unterdessen in Dresden oder Kempten, - in Berlin noch nicht!  

In Hamburg wurde noch 1899 die einstige Louisenstraße in Sedanstraße umbenannt. Heute bemüht sich eine Hamburger Bürgerinitiative um eine Umbenennung. 

Bis heute ist „Sedanstraße“ nach Wikipedia in Deutschland ein „gängiger Straßenname“. 

Im Gefolge des Krieges 1870/71 kam es in Deutschland zu einem Aufschwung von Panorama-Bauten, Rundgemälden, die als Massenmedien dienten, sehr oft mit Darstellungen der Schlacht von Sedan, so z.B. in Frankfurt am Main (1879/80), Leipzig (1883/84), Köln (1884) oder aber in Berlin.

In Berlin gab es einerseits das Panorama in der Herwarthstraße [4], das „Nationalpanorama“, in dem seit 1881 mehrere Rundgemälde zu Ereignissen des Krieges 1870/71 ausgestellt wurden.

Theodor Fontane besuchte selbst das dortige 1881 entstandene Panoramabild zum „Sturm auf St. Privat“ von Emil Hünten (1827-1902), den er sehr schätzte. Zudem ließ er im 6. Kapitel seiner „Effie Briest“ Innstetten, den Vetter Briest und Effie selbst als Nationalpanorama besuchen (vgl. Fontane 1971, S. 42, a.a.O.). 

Kurz vor der Jahrhundertwende wurde die Rotunde des Nationalmuseums aus ökonomischen Gründen abgerissen (vgl. Oettermann, S. 204, a.a.O.).

Andererseits entstand mit sehr hohem Aufwand (ca. 1 Mio. Goldmark für den Bau, das Grundstück und das Rundbild) am Alexanderplatz das aufwendig-repräsentative „Sedanpanorama“. Unter der Leitung des offiziellen preußischen Historienmalers Anton von Werner (1843 - 1915) beschäftigten sich insgesamt 14 Maler (u.a. auch Carl Röchling) mit der 2000 m2 großen Leinwand (vgl. Oettermann, S. 178, a.a.O.). Die feierliche Eröffnung erfolgte am Jahrestag, dem 1. September 1883 in Anwesenheit des Kaisers. Die Besucherplattform dieses Panoramas wurde maschinell gedreht, so dass der Besucher innerhalb von 25 min das ganze Bild sehen konnte. In den nächsten Jahren folgte ein Massenansturm auf das Sedanpanorama, das so trotz der hohen Kosten ein wirtschaftlicher Erfolg für die Investoren wurde. 

„… Als quasi nationales Monument blieb das Sedan-Panorama für jeden deutsch-denkenden Berlin-Besucher ein touristisches ‚Muss‘. Stammgäste waren Schulklassen und Veteranenvereine“ (Oettermann, S. 209, a.a.O.).

Der Kronprinz und spätere Kaiser Friedrich III. betrat das Panorama allerdings nie, - er fühlte sich auf dem Bild nicht angemessen dargestellt.  

Im Jahre 1904 – als die Kosten die Einnahmen übertrafen – wurde das Panorama am Alexanderplatz abgerissen. 

 

Hermann Hesse beschrieb in seiner 1903 in Calw entstandenen Erzählung „Unterm Rad“ einen damaligen Sedantag: „Es war der Vorabend vor dem Sedansfest; August war zu ihm gekommen und hatte Efeu mitgebracht, nun wuschen sie ihre Fahnenstangen blank und befestigten den Efeu an den goldenen Spitzen, von morgen redend und sich auf morgen freuend. … sie waren beide so voll von Festahnung und großer Freude gewesen, die Fahnen hatten in der Sonne geglänzt, die Anna hatte Zwetschgenkuchen gebacken, und zu Nacht sollte auf dem hohen Felsen das Sedansfeuer angezündet werden“ (Hermann Hesse, 1974, S. 141, a.a.O.).  

 

Nach Ulrich Pfeil (* 1966), deutscher Historiker für Deutschlandstudien an der Université de Lorraine/Metz, kam es in den Jahren nach 1890 zu einem widersprüchlichen Wandel in der Inszenierung des Sedantages. Einerseits prägten nun „… nationalistische Überheblichkeit, angriffslustiges Gebaren, imperiale Machtansprüche und eine Gefühl der militärischen Unbezwingbarkeit … die Feierlichkeiten“ (Pfeil, S. 31, a.a.O.). Andererseits ließ die „… gesellschaftliche Mobilisierung für den Sedantag zunehmend“ nach, sei es durch Widerstände in Süddeutschland gegen die preußische Hegemonie, sei es durch mentale Distanzen von Katholiken und Sozialdemokraten. Pfeil betonte, dass die „… Erinnerungslandschaft des Kaiserreiches heterogener (war), als vielfach angenommen“ wurde (Pfeil, S. 31, a.a.O.).        

 

Das Ende für die Sedanfeiern kam am 27. August 1919: das Innenministerium  der Weimarer Republik erklärte, es werde keine offiziellen Sedansfeiern mehr geben, sie entsprächen nicht mehr den Zeitverhältnissen.

 

(unveränderlich, nach dem Gregorianischen Kalender)

 

 © Christian Meyer


[1] Auf deutscher Seite gab es ca. 9000, auf  französischer ca. 17000 Tote. In deutsche Gefangenschaft gerieten ca. 104 000 französische Soldaten.

[2] Wie immer studierte Zola die vorliegende Fachliteratur, die Memoiren, besuchte die entsprechenden Örtlichkeiten etc. In Sedan blieb er allein 15 Tage lang, inspizierte das Schlachtfeld und sprach mit Einwohnern und Zeitzeugen.

[3] Dort wurde sogar ein kleiner Stadtteil beim Steglitzer Stadtpark mit mehreren Straßen nach Schlachtenorten des Krieges von 1870/71 benannt: Gravelottestraße (nach der Schlacht bei Gravelotte, in Frankreich ‚Bataille de Saint-Privat‘ genannt, bei Metz, am 18. August 1870), Orleansstraße (nach der  Schlacht von Orléans an der Loire, am 3. und 4. Dezember 1870), Vionvillestraße (nach der Schlacht bei Vionville  auch Schlacht bei Mars-la-Tour genannt, nahe Metz am 16. August 1870), Dijonstraße (nach den langen Kämpfen zwischen dem Oktober 1870 und dem Februar 1871), Rezonvillestraße (nach der Schlacht bei Rezonville/Lothringen am 16. August 1870). Die Namen sind bis heute so erhalten.

[4] Die nicht mehr existierende Herwarthstraße lag im Alsenviertel, südlich des Spreebogens und führte auf die bis heute erhaltene Moltkebrücke zu. Das Nationalpanorama lag ungefähr dort, wo sich heute das Bundeskanzleramt befindet.  

 

Abb.: „Das Sedanpanorama am Alexanderplatz“ (Abb. aus Oettermann, S. 206, a.a.O.). Es befand sich ungefähr am Ort des Centrum-Kaufhauses.