7. Februar 2005: Mord an Hatun Sürücü

 

Hatun Sürücü (1982 – 2005) wurde 16jährig von ihren kurdischstämmigen Eltern von der 8. Klasse des Kreuzberger Robert-Koch-Gymnasium abgemeldet und mit einem Cousin in Istanbul zwangsverheiratet. 

1999 flüchtete Hatun schwanger zurück nach Berlin. Sie gebar ihren Sohn Can, legte das Kopftuch ab, zog bei ihren Eltern aus, begann eine Lehre und lebte selbständig. Damit aber „beschmutzte“ sie in den Augen „… ihrer Eltern und Brüder … die Ehre der Familie“ (vgl. Tagesspiegel, 5. Juli 2014, S. 18).   

Ayhan Sürücü, der jüngere Bruder von Hatun, lauerte zusammen mit seinen älteren Brüdern am 7. Februar 2005 an einer Bushaltestelle bei ihrer Wohnung in der Tempelhofer Oberlandstraße seiner Schwester auf. Der damals 18jährige schoss Hatun dreimal in den Kopf.

Vor Gericht gestand im April 2006 Ayhan Sürücü die Tat und wurde zu einer Jugendstrafe von neun Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Seine beiden älteren Brüder Mutlu und Alpaslan wurden aus Mangel an Beweisen damals freigesprochen und reisten in die Türkei aus.

Der Bundesgerichtshof hob allerdings das Urteil ein Jahr später auf. Wegen Verdachts auf Mittäterschaft sollen unterdessen in der Türkei Vorermittlungen gegen sie aufgenommen worden sein. Im Sommer 2013 wurden Kopien der Berliner Prozessakten nach Istanbul gesandt.

Während seiner Haft soll Ayhan Sürücü keine Reue gezeigt haben, bei seinen Mithäftlingen hatte er z.T. eine Art „Märtyrerstatus“. Im Sommer 2014 wurde Ayhan nach der Strafverbüßung aus der Haft entlassen und in die Türkei abgeschoben (vgl. Tagesspiegel, 5. Juli 2014, S. 18).

Der „Ehrenmord“ in Berlin-Neukölln am 7. Februar 2005 an Hatun Sürücu durch ihren jüngeren Bruder führte nicht nur zu einer größeren öffentlichen Beachtung dieser Art von Gewalt gegen Frauen, er führte auch am 2. Jahrestag des Mordes zur Gründung des Hilfsvereins „Hatun und Can Frauennothilfe“.  Der frühere Rechtsberater von Hatun Sürücü, Andreas Becker, war einer der Gründer des Vereins, er kümmerte sich um die Kontakte zu Institutionen und Ämtern (vgl. „Tagesspiegel“, 3. November 2008, S. 11). Der Verein finanziert sich durch Spenden (im Jahre 2007 knapp 60 000,- €), seine Mitglieder sind ehrenamtlich tätig. Der Verein wurde rasch zu einer Anlaufstelle für bedrängte Frauen; Polizei und Behörden hülfen – nach Auffassung des Vereins – zu langsam und zu bürokratisch. Zuweilen würde hilfesuchenden Frauen auch nicht geglaubt. Viele bedrohte Mädchen und Frauen gingen zudem aus Angst vor einer Ächtung durch die Familie nicht zur Polizei.

Der Verein half in den ersten zehn Monaten des Jahres 2008 in knapp 2000 Fällen Frauen und Mädchen anonym in lebensbedrohlichen  Situationen. Vereinsmitglieder (v.a. junge Migrantinnen, die ehrenamtlich mitarbeiten) begleiteten Frauen zu  Zufluchtswohnungen (auch im Ausland), bezahlten Zugfahrkarten und Flugscheine, Soforthilfen, Wohnungseinrichtungen etc.

15 % der Hilfesuchenden stammten aus Berlin, 75 % aus dem übrigen Bundesgebiet, der Rest aus dem Ausland (u.a. der Schweiz, dem Jemen und Afghanistan). In der Praxis des Vereins Hatun und Can gab es Fälle wie

  • den Notruf eines 15jährigen Mädchens: „Bitte helft mir, mein Vater will mich umbringen, wenn ich diesen Mann nicht heirate“
  • eine junge Migrantin wurde als Drohung schon mal mit Benzin übergossen
  • in der Türkei wurde einer jungen Deutsch–Türkin in beide Beine geschossen, weil sie den von der Familie ausgesuchten Mann nicht heiraten wollte (vgl. Tagesspiegel. 3. November 2008, S. 1).

Die damalige Berliner Sozialsenatorin Heidi Krake–Werner (Die Linke) ließ die Anträge des Vereins auf finanzielle Förderung durch den Staat prüfen (vgl. Tagesspiegel. 3. November 2008, S. 1).

Im Februar 2018 beschloss die Mehrheit der Bezirksverordneten von Neukölln die Brücke der Sonnenallee über die Autobahn A100 nach Hatun Sürücü zu benennen (vgl. Berliner Zeitung, 6. Februar 2018, S. 11). Da Hatun Sürücü sozusagen zwischen den Kulturen stand, sei eine Brücke ein besonders symbolischer Ort für die Namensgebung.

Im Juni 2008 wurde an der Ecke Oberlandstraße/Oberlandpark – nahe der Haltestelle des Buses 246, an der Hatun Sürücü ermordet wurde – ein Gedenkstein errichtet, mit einem deutschen und türkischen Text (vgl. Photo unten). Am 7. Februar 2023 – dem 18. Todestag – versammelten sich an dem Gedenkstein ca. 50 Personen mit allerlei Senats- und Bezirksprominenz sowie dem Arbeitskreis gegen Zwangsverheiratung und legten im Gedenken an Hatun Sürücü Blumen und Kränze nieder.   

 

(vgl. auch 8. März; 25. November)  

 

(unveränderlich nach dem Gregorianischen Kalender)


© Christian Meyer

 

 Der Gedenkstein an Hatun Sürüsü am 7. Februar 2023

(Photo: Christian Meyer, 7. Januar 2023)