Abb.: Telemach trifft Nestor in dem alten Königspalast; Detail eines apulischen Kraters, Mitte des 4. Jhdts. v. Chr.; Staatliche Museen Berlin. (www.pinterest.com)

 

16. Juni 1904: Bloomsday

 

„Bloomsday“ ist der wohl einzige Gedenktag weltweit, der einem Roman gewidmet ist, dem Roman „Ulysses“ von James Joyce (vgl. „Freitag“, Nr. 49/2017, S. 28).

Joyce (2. Februar 1882 – 13. Januar 1941, in Zürich) wurde als ältestes von 10 Geschwistern in einer armen irischen Familie in Dublin geboren. Er besuchte eine jesuitische Schule in Dublin, hatte dort aber Konflikte und wandte sich von dem katholischen Glauben ab.

Er studierte in Dublin Literatur und Sprachen, lernte z.B. Norwegisch, um Ibsen im Original lesen zu können. 

Die zu dieser Zeit einflussreiche „Celtic revival“-Bewegung lehnte Joyce ab, er betonte die Vielfalt der in Irland wirkenden kulturellen Einflüsse. 

Joyce allerdings hatte bereits als 22jähriger (im Jahre 1904) Dublin und Irland verlassen und mied es bis auf kurze Aufenthalte bis zu seinem Tode. Er lebte als eine Art freiwilliger Exilant im Ausland (Triest/Pola, Rom, London, Paris, Zürich), die Dichtungen des Heimatlosen aber kreisten um Dublin.

 

In dem Roman „Ulysses“ erzählt James Joyce, was die Hauptfigur, Leopold Bloom, ein Annoncenvermittler und getaufter Jude (dessen Familie  aus Ungarn stammte, er selbst war bereits in Irland geboren), seine Frau Molly und der junge Lehrer Stephen Dädalus am 16. Juni 1904 taten, dachten, fühlten bzw. erlebten. Joyce selbst soll an diesem Tag eine erste erotische Erfahrung mit seiner Lebensgefährtin und seit 1931 Ehefrau Nora Barnacle gehabt haben. Auch darüber hinaus sind viele der Romanfiguren und Handlungen mit autobiographischen Erlebnissen des Autors eng verbunden.

Joyce arbeitete jahrelang, zwischen 1904 und 1922, an dem Roman, ein nie „fertig“ werdendes Werk. 

 

Nach dem Erscheinen einiger Episoden aus dem „Ulysses“ 1918 wurden sie wegen „Obszönität“ im Jahre 1920 in Großbritannien und den USA verboten.

Joyce hörte an seinem 40. Geburtstag, dem 2. Februar 1922 auf an Ulysses weiter zu schreiben, es war die selbst gesetzte Frist der Beendigung der Arbeit  (vgl. „Freitag“, Nr. 14/2017, S. 15).  Jedoch hatte ihn die Arbeit an Ulysses so erschöpft, dass Joyce für mehr als ein Jahr lang nichts schrieb.  

1922 erschien eine erste zensierte Fassung des Werks in Paris, aber auf Englisch. Das vollständige Werk wurde erstmals 1922 publiziert, in deutscher Sprache 1927.

 

„Ulysses“ ist der vielleicht „… systematischste Versuch einer Universalisierung der Alltagserfahrung und … Experiment mit neuen Ausdrucksformen“ (Wischer, S. 188, a.a.O.). Auf 1200 Seiten wird das Erleben der Hauptfigur an einem einzigen Tag, dem 16. Juni 1904, als eine Art minuziöser Dauermonolog ausgebreitet, beim Frühstück, am Arbeitsplatz, in der Kneipe, beim Spaziergang, bei einem Krankenbesuch und einer Beerdigung – auch ein soziales Panorama Dublins, mit Sprachspielen, Slangeinlagen und z.T. interpunktionslos dahinströmenden Assoziationen. 

 

Joyce unterteilte seinen Ulysses in 18 Episoden, die grob, in gewissen Aspekten mit Episoden der 24 Gesänge von Homers Odyssee korrespondieren. Dabei ist der Roman eine (eigenwillige) Übertragung des Odyssee-Stoffes samt einzelnen Stationen auf einen Durchschnittstag eines modernen Durchschnittsmenschen in das moderne Dublin (vgl. Frenzel, S. 553, a.a.O.): Leopold Bloom durchwandert (wie der „ewig Jude“) in den 18 Stunden Dublin, so wie Odysseus 10 Jahre lang den Mittelmeer-Bereich durchquert. Wie Odysseus schließlich nach Ithaka kehrt Bloom am Ende des Tages zu seiner Penelope, Molly im Roman, zurück.  

Motive aus der Reihenfolge der Gesängen der Odyssee spielen in die Ulysses-Kapitel hinein, die Parallelen zu Homer sind bei Joyce allerdings vielfach gespiegelt, gebrochen, variiert. Wo bei Homer noch Götter über das Handeln und Schicksal der Menschen bestimmen, ist es bei Joyce die menschliche Psyche, das Unbewusste.

 

2. Episode: Nestor 

 

In der Odyssee verlässt Telemach Ithaka und sucht im III. Gesang in Begleitung  / Führung der (inkognito) Göttin Athene den alten König Nestor in Pylos (gr. Tor) an der Westküste des Peloponnes auf, um Informationen über seinen lang vermissten Vater zu erlangen. Nestor erscheint in der Ilias und der Odyssee mit dem Beinamen „der gerenische“ (z.B. in Homer, 1962, III, 68; S. 28, a.a.O.), nach dem messenischen Ort Gerenia. Nestor war berühmt für seine Erfahrung und Weisheit: „… der vor allen Menschen Gerechtigkeit kennt und Weisheit“ (Homer, 1962, III. 244; S. 32, a.a.O.). Er war der älteste der Griechen vor Troja und ein Kriegskamerad des Odysseus. Doch Nestor weiß nichts über dessen Verbleib und empfiehlt ihm in Sparta Menelaus zu befragen.

In der Nestor-Episode (2. Kapitel des Ulysses)  ist Stephen Dädalus ( Telemach)  die Hauptfigur. Garrett Deasy, der Direktor der Schule, in der Dädalus arbeitet soll mit König Nestor korrespondieren (vgl. Epstein, S. 17, a.a.O.). Allerdings ist Deasy alles andere als weise, er ist voller Vorurteile, antisemitisch und misogyn eingestellt.

M.E. ist die Benennung  als Nestor-Episode inhaltlich nicht sehr überzeugend Angeführt werden in der Literatur einzige das Lernen und Lehren, der Bezug zur Geschichte als Analogie zur Odyssee. 

Die Nestor-Episode in „Ulysses“ schrieb Joyce im 1. Weltkrieg, 1917 in der neutralen Schweiz.  .

 

Der Tiefenpsychologe Carl Gustav Jung (1875 - 1961) kam 1932 nach einer Schizophrenie-Diagnose von Joyce Tochter Lucia und nach der Lektüre von „Ulysses“ zu dem Schluss,  er habe sich zwar durch das Buch hindurch quälen müssen, aber es zeuge von enormem Einfühlungsvermögen, insbesondere in die weibliche Psyche. Jung verfasste einen langen Essay in der (eher konservativen) „Europäischen Revue“ über Joyce,  in dem er ausführte: Joyce sei als Künstler  das unwillentliche Sprachrohr für psychische Geheimnisse seiner Zeit, oft unbewusst, wie ein Schlafwandler (C. G. Jung, in seinem Ulysses-Essay; http://jungcurrents.com/jungs-essay-on-ulysses)

In einem Brief vom 29 Juni 1955 an die Joyce-Expertin Patricia Graecen meinte Jung hingegen, der “psychologische” Stil von James Joyce sei klar schizophren, aber Joyce beherrsche und entwickle ihn mit all seiner kreativen Kraft. 

 

Der kommunistische  Politiker und Journalist Karl Radek (1885 - ca. 1939)  – damals Komintern-Funktionär – warnte im August 1934  auf dem Moskauer Schriftsteller-Kongress die sowjetischen Schriftsteller vor dem Einfluss, dem „morbiden Reiz“ von Proust und Joyce; letzterer habe sogar versucht, „… sich eine eigene Sprache zu schaffen, um die Gedanken und Gefühle auszudrücken, die er nicht besitzt“ („Die moderne Literatur und die Aufgaben der proletarischen Kunst“, S. 206, a.a.O.; https://www.marxists.org/archive/radek/ 1934/sovietwritercongress.htm).   

 

„Ulysses“ wird vielfach als „… das wohl bedeutendste englische Prosawerk des Jahrhunderts“ angesehen (Wischer, S. 188, a.a.O.). Die Einstellungen von Lesern des „Ulysses“ lassen sich grob in zwei Lager einteilen: Einerseits die der z.T. ehrfürchtigen Bewunderer und Verehrer und andererseits derjenigen, die  eine Mischung von Verärgerung, Verzweiflung, Langweile und Überwältigung empfanden.

Mir erscheint das Buch als ein Buch voller Rätsel, zu deren Lösung viel Zeit benötigt wird. Belohnt wird der Leser jedoch durch ein überwältigendes Panorama irischer und europäischer Kultur zu Beginn des 20. Jhdts.    

 

Im Jahre 1954 begannen der irische Dichter Patrick Kavanagh (1904  - 1967) und einige seiner Freunde am 16. Juni den „Bloomsday“ zu begehen, mit einer ersten geführten Tour durch Dublin – auf den möglichst exakten Spuren des Romans. Zudem feierten sie damit das erste Erscheinen des Romans in der heutigen Fassung, da das Buch zuvor lange Jahre weltweit als „obszön und nichtswürdig“ verboten gewesen war (vgl. „Freitag“, Nr. 49/2017, S. 28).

Seither treffen sich jährlich am „Bloomsday”, am 16. Juni, Tausende Verehrer von James Joyce und wandern auf den Spuren von Leopold Bloom im „Ulysses“ durch Dublin.    

 

(unveränderlich,  nach dem Gregorianischen Kalender)  

 

 © Christian Meyer

 

Detail der „Map of Dublin“ Maßstab 1.20 000; Ordnance Survey Office, Dublin 1979;  einfügen: Sandycove etc.

 

Abb.: Der Martello-Wehrturm in Sandycove, neben der Fourty Foot-Badestelle südlich von Dublin. James Joyce war hier 1904 eine Woche zu Gast bei einem Bekannten und soll dort  bereits am „Ulysses“ geschrieben haben. Die Nestor-Episode des Romans spielt dort. Heute befindet sich in dem Wachturm ein James-Joyce-Museum.