Das 1862 von Anton Rubinstein gegründete Konservatorium von St. Petersburg; undatierte Photographie (Abb. aus Müller, 2015, S. 22/23 a.a.O.).

Dmitri Schostakowitsch in der Mitte der 20er Jahre; Photographie aus der Zeit der Entstehung seiner Ersten Symphonie (Abb. aus Müller, 2015, S. 21, a.a.O.).

Dimitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch in den Dreißiger Jahren (Abb. aus Giese, a.a.O.).

25. September 1906: Geburt von Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch (1906-1975)

 

Schostakowitsch ist sicher einer der bedeutendsten, interessantesten, aber auch umstrittensten Komponisten des 20. Jhdts., gleichzeitig Komponist von vielfach aufgeführten Opern Balletten und Operetten, von jazzartig-schrägen Filmmusiken, vielfältigen Kammermusik- und Orchesterwerken sowie 15 sehr unterschiedlichen Symphonien.

Er war (zumindest zeitweise) vom Jazz fasziniert und arrangierte 1927 – im Gefolge einer Wette - Vincent Youmans „Tea for Two“ für Symphonieorchester, unter dem Titel „Tahiti Trot“ (op. 16, vgl. Schlögel, S. 565, a.a.O.).

 

Der (junge) Schostakowitsch blieb – im Gegensatz zu den älteren  Sergej Wassilijewisch Rachmaninow (1873 - 1943) und Sergej Sergejewitsch Prokofjew (1891 - 1953) - in Russland bzw. der Sowjetunion. Ob er das jemals bereute, ist mir unklar.

 

 

Sein Leben kann - wie Wolkow (a.a.O.) ausführte – als Lehrstück (nicht nur) russischer Kulturgeschichte betrachtet werden, von Macht und Kunst vor dem Hintergrund von Repression und Aufbegehren, zwischen Anpassung und Auflehnung.
Der (west-) deutsche Musikkritiker Heinz Josef Herbort (1932 - 2006) meinte über Schostakowitsch, er sei „… das musikalische Paradoxon unseres Jahrhunderts“ (zit. n. Spiegel“, Nr. 26/1978, S. 166). Wie der „Spiegel“ resümierte, habe der Kampf um die „Polit-Ästhetik“ Schostakowitschs Leben bestimmt: „Er hat den sozialistischen Realismus verworfen und akzeptiert, er hat sich der Partei unterworfen und dennoch über sie triumphiert“ (vgl. Spiegel“, Nr. 26/1978, S. 167).

 

Die „Zeit“ überschrieb ihren Nachruf von Herbort über Schostakowitsch mit „Der gefeierte Vasall“ (vgl. „Die Zeit“. Nr. 34/1975, S. 31). Dennoch hielt er Schostakowitsch für dem größten der sowjetischen Komponisten, „… er war dennoch als Gefeierter ein Vasall und als Meister seiner Herren steter Knecht. Er war Priester und Opfer zugleich – das musikalische Paradoxon unseres Jahrhunderts“ (Herbort in „Die Zeit“. Nr. 34/1975, S. 31). 

 

Lenin gegenüber scheint Schostakowitsch Achtung empfunden zu haben. Schon als Kind war er 1917 Augenzeuge, wie ein Arbeiter von der Polizei erschossen wurde. Auch war er unter der Menge, die vor dem Finnländischen Bahnhof in Petrograd  [1] auf die Rückkehr Lenins aus dem Exil wartete. Auch dessen Rede bei der Ankunft hörte er. Ob er deshalb – trotz aller Repressalien – immer die Sowjetunion nach außen hin verteidigte und trotz aller Avancen aus dem Westen nie an eine Emigration dachte? (vgl. Jachimowicz, a.a.O.).  

 

Schostakowitsch wurde als Sohn eines Ingenieurs in St. Petersburg geboren und machte eine rasche Karriere. Seine Mutter, ausgebildete Pianistin, erteilte ihm mit neun Jahren den ersten Klavierunterricht, gleichzeitig begann er zu komponieren und galt bald als Wunderkind. Schon als Kind zeigte Schostakowitsch ein ungewöhliches musikalisches Gedächtnis und ein absolutes Gehör. Mit nur 12 Jahren wurde er zum Klavier- und Kompositionsunterricht am Moskauer Konservatorium zugelassen.
Bereits mit 13 Jahren konnte er 1919 in das Petrograder Konservatorium eintreten, wo er in seinen Klavier- und Kompositionsstudien von Alexander Konstantinowitsch Glasunow (1865 – 1936) – bis 1930 Direktor des Konservatoriums - bestärkt und ermutigt wurde. Schostakowitsch bestand das Examen am Konservatorium als Konzertpianist (mit Beethovens Hammerklaviersonate) glänzend, wurde aber „… wegen jugendlicher Unreife“ aus dem Institut geworfen. 

 

Mit 16 hatte Schostakowitsch erste Konzerterfolge mit einer eigenen Sonate für 2 Klaviere, mit 17 war er ein Gründungsmitglied einer Gesellschaft für Viertelton Musik.  

Nachdem im Jahre 1922 Schostakowitschs Vater gestorben war, arbeitete er ab 1924 zur Unterstützung der Familie als zeitweise Hunger leidender Stummfilm-Pianist in Kinos. 1923 erkrankte er an TBC und musste sich in einem Sanatorium aufhalten. Mit 19 schrieb er seine 1. Symphonie, mit 23 wurde er Professor am Konservatorium.  

 

Schon seit seiner Kindheit wollte er Karriere als Konzertpianist machen. Im Januar 1927 nahm Schostakowitsch als einer von fünf sowjetischen Pianisten am 1. Internationalen Chopin-Wettbewerb in Warschau teil. Er gewann zwar eine ehrenvolle, lobende Erwähnung in Warschau, den 1. Preis aber gewann der sowjetische Pianist Lew Nikolajewitsch Oborin (1907 – 1974). Schostakowitsch aber empfand dies als Misserfolg, gab die Komzertpianisten-Karriere auf und konzentrierte sich auf die Komposition.  

 

Früher schon beschloss der junge Schostakowitsch, mit der Komposition einer Symphonie eine Studienfortsetzung am Konservatorium zu erreichen. 1923/25 komponierte er seine 1. Symphonie f-moll op. 10 und reichte die Partitur im Dezember 1925 bei der Prüfungskommission ein. Diese, bestehend u.a. aus Alexander Glasunow und Schostakowitschs Kompositionslehrer Maximilian Ossejewitsch Steinberg (1883 - 1946), nahm das Werk als  Abschluss-Diplomarbeit der Kompositionsstudien und zur Aufführung an: es zeige „Ausdruck höchsten Talents“ (vgl. Müller, 2015, S. 23, a.a.O.). 

Die Uraufführung der 1. Symphonie durch die Leningrader Philharmoniker unter dem ukrainischen Dirigenten Nikolai Andrejewitsch Malko (1883 - 1961) am 22. Mai 1926 in Leningrad war ein großer Erfolg.  

Die Symphonie „… ist … kein Lamento, kein Klagelied, obwohl tragische Momente nicht fehlen. Die meisten Themen haben einen störrischen, aufbegehrenden Gestus, der sich im Finale triumphal steigert. Den elegischen Elementen stehen groteske Episoden gegenüber, und wer die Symphonien Schostakowitschs kennt, stellt erstaunt fest, dass die Erste bereits im Keim fast alles enthält, was die späteren prägen wird…“ (Müller, 2015, S. 23, a.a.O.). 

Seit 1976 trägt die Leningrader bzw. St. Petersburger Philharmonie den Namen Schostakowitschs.

 

Eine wichtige Rolle bei der Rezeption der ersten Werke Schostakowitschs im „Westen“ spielte Bruno Walter (1876 – 1962). Im Jahre 1926 dirigierte er bei Konzerten in Leningrad und lernte dabei den jungen Schostakowitsch kennen und schätzen. Dieser spielte Bruno Walter seine 1. Symphonie auf dem Klavier vor, ein nahezu kammermusikalisch besetztes, an Strawinski und Prokofjew erinnerndes Werk. Walter war von der Komposition und dem Komponisten sehr beeindruckt, schon am 6. Februar 1928 dirigierte er Schostakowitschs 1. Symphonie mit den Philharmonikern in der (alten) Berliner Philharmonie.

Der Musikwissenschaftler Gerhard Müller sah in der 1. Symphonie einen „Geniestreich“ des kaum 20jährigen Komponisten, der ihn mit „einem Streich“ zu einer Berühmtheit machte. Auch z.B. Darius Milhaud und Alban Berg zeigten sich von der Symphonie begeistert (vgl. Müller, 2015, S. 20, a.a.O.).

 

Die 1927 entstandene 2. Symphonie („An den Oktober“) war eine Auftragsarbeit für den 10. Jahrestag der Oktoberrevolution. Ähnlich der 3. Symphonie („Zum 1. Mai“) wird sie heute vielfach nicht mehr als Indiz für politische Überzeugungen Schostakowitschs angesehen, sondern lediglich als notwendige künstlerische Zugeständnisse an die Regierung.

Seit 1928 komponierte Schostakowitsch immer wieder Filmmusiken, was ihm eine wichtige Einkommensquelle verschaffte.

 

1928 komponierte Schostakowitsch seine Oper „Die Nase“ nach der „prä-ionescoiden Novelle“ (vgl. „Spiegel“, Nr. 27/1963) von Nikolai Gogol. Sie wurde im Juni 1929 konzertant in Leningrad aufgeführt und von Seiten der Vertreter einer proletarischen Musik und Kunst heftig attackiert. Dennoch kam es noch zu einer Opernpremiere 1930 in Leningrad, - dann allerdings „verschwand“ das missliebige Werk des 24jährigen Schostakowitsch für Jahrzehnte, ein erster Vorgeschmack auf das, was noch kommen sollte. Erst 1963 wurde „Die Nase“ wieder aufgeführt, in der Düsseldorfer „Deutschen Oper am Rhein" (vgl. „Spiegel“, Nr. 27/1963).

 

Daniel Shitomirski verfasste damals eine scharfe Polemik gegen die Oper, später distanzierte er sich davon.  

1932 heiratete Schostakowitsch Nina Warsar (+ 1954), die „… schönste lebende Frau Russlands“ (Quigley, S. 30, a.a.O.). 

 

1933 komponierte Schostakowitsch sein 1. Klavierkonzert c-moll op. 35, das wohl ursprünglich ein Trompetenkonzert hatte werden sollen: dafür spricht jedenfalls der ausgedehnte Trompeten-Solopart und die Benennung als Konzert „… für Klavier, Streichorchester und Trompete“. Das viersätzige Konzert zitiert u.a. Beethoven (die Appassionate-Sonate und die „Wut über den verlorenen Groschen“) und andere Komponisten so vielfältig und phantasievoll, dass der russische Musikwissenschaftler und Pianist Leonid Jewgenjewitsch Gakkel (*1936) das Konzert später als „Karneval“ bezeichnete. Schostakowitsch selbst spielte den Klavierpart des Konzerts bei der Uraufführung am 15. Oktober 1933 mit den Leningrader Philharmonikern.

 

Im Jahre 1932 komponierte Schostakowitsch die Oper „Lady Macbeth in Mzensk“ nach der gleichnamigen Erzählung von Nikolai Semjonowitsch Leskow (1831 - 1895) und widmete sie seiner Ehefrau Nina.. Die Oper wurde 1934 am Maly-Theater in Leningrad uraufgeführt und innerhalb der nächsten fünf Monate 36mal gespielt. Sie wurde von inländischen Kritiken zunächst als „Ideal der sowjetischen Oper“ gefeiert (vgl. Giese, a.a.O.) und auch auf vielen Opernbühnen des Auslandes mit großem Erfolg gespielt. In Moskau hatte es die "Lady" auf 94 Aufführungen gebracht. In „Knaur’s Lexikon A-Z“ (Th. Knaur Nachf., Berlin 1938) suchte man allerdings noch vergeblich nach dem schon weltberühmten, erfolgreichen Komponisten.

 

Mit 30 Jahren hatte Schostakowitsch u.a. zwei Opern, vier Symphonien, drei Ballette, zwei Film- und Bühnenmusiken sowie ein Konzert für Klavier und Trompete geschrieben.   

 

Am 16. Januar 1936 besuchte Stalin im Moskauer Bolschoi-Theater (in der gepanzerten Regierungsloge) eine Aufführung von Schostakowitschs „Lady Macbeth“. Am 28. Januar 1936 wurde auf der 3. Seite  der „Prawda“, dem Zentralorgan der KPdSU, ein Artikel „Chaos statt Musik“ veröffentlicht. Der Artikel war nicht namentlich gekennzeichnet, stellte also die Auffassung der Redaktion dar. Später stellte sich heraus, dass vermutlich Stalin selbst den Artikel initiiert oder geschrieben hatte, allein schon einiger typischer Grammatikfehler wegen.

 

In dem Artikel wurde die Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ heftig attackiert, „… Geschrei und Missklang“ bestimmten das Geschehen, es fehlten „fassbare Melodien sowie … schöne, ausdrucksvolle Gesangslinien“ (zit. n. Giese, a.a.O.). „Das ist alles roh, primitiv, vulgär, die Musik ist marktschreierisch, grunzt, grollt, erstickt sich selber…(Er sei)… ohne Zweifel der erste Komponist pornographischer Musik“ (zit. n. Herbort, in „Zeit“, Nr. 34/1975, S. 31). Schostakowitschs Oper entspreche dem „dekadenten bürgerlichen Kunstgeschmack“, könne aber „… dem Ziel einer neuen Kultur und eines neuen Menschenbildes“ nicht dienen.

Die Kritik des Prawda-Artikels gipfelte in den Vorwürfen: „ Diese Musik ist geschaffen worden, um die Oper zu verneinen, um – ähnlich wie die ganze (linke) Kunst – sich der Einfachheit, den Realismus, der Verständlichkeit des Bildes und dem Gewicht des Wortes im Theater entgegenzustellen. … Es ist dies ein linkes Chaos statt einer echten menschlichen Musik. Die Kraft der Musik, die den Hörer mitreißen kann, wurde zu Gunsten kleinbürgerlicher und unfruchtbarer formalistischer [2] Versuche und prätentiöser Bemühungen um Originalität mithilfe billigster Mittel verschleudert. Dieses Spiel kann böse enden« (zit. n. Giese, a. a. O.). „Lady Macbeth“ sei – hieß es – „Ausdruck linksradikaler Auswüchse“ (vgl. Schlögel, S. 565, a.a.O.).

Wie Julian Barnes in seinem Schostakowitsch-Roman (a.a.O.) berichtet, strich sich Schostakowitsch bis zu seinem Tode den 28. Januar jeweils in seinem Kalender an. 

Von der gegen ihn und seine Musik entfachten Pressekampagne fühlte sich Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch – zu Recht – so bedroht, dass er sich mit Suizidgedanken trug: Er „… stand trotz seiner äußerlichen Gelassenheit unter Hochspannung und befand sich nach Ansicht vieler kurz davor, Selbstmord zu begehen“ (Wolkow, S. 203, a.a.O.).

 

Die nächsten Monate soll Schostakowitsch, „… mit einem kleinen Koffer unter dem Bett, in seinen Kleidern (geschlafen haben), stets gewärtig, wie damals üblich des Nachts von der Geheimpolizei abgeholt zu werden“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Dmitri_Dmitrijewitsch_Schostakowitsch#1934.E2.80.931936) . In dem Koffer sollen sich u.a. Zigaretten, Unterwäsche und Zahnpulver befunden haben.

Die „Lady Macbeth“ wurde von den sowjetischen Opern abgesetzt, Schostakowitsch sebst wurde empfohlen, das musikalische Leben des Volkes zu studieren, um von ihm zu lernen (vgl. Schlögel, S. 565, a.a.O.).

 

Die Karriere Schostakowitschs wurde durch die rauhe Pressekampagne jäh beendet. Besonders gefährlich war der Formalismus-Vorwurf, formalistische Kunst sei „… eine sinnentleertes Spiel mit Formen und Strukturen“ (zit. n. Giese, a.a.O.). Formalismus aber stehe dem künstlerischen Leitbild des sozialistischen Realismus radikal entgegen; diesem aber liege immer ein klares ideelles Konzept zugrunde.

Schon im Februar 1936 zeigte sich auf der Tagung des sowjetischen Komponistenverbandes, dass nur wenige seiner Kollegen (so z.B. Andrej Filippowitsch Paschtschenko, 1885 – 1972) Schostakowitsch gegen den Formalismus-Vorwurf zu verteidigen den Mut aufbrachten.

 

In dieser gefährlichen Situation war für Ende 1936 die Uraufführung seiner 4. Symphonie c-moll geplant, die von Einflüssen Gustav Mahlers geprägt war: „Es ist ein monumentales, stark von der europäischen Moderne … inspiriertes Werk voller Brüche und Paradoxien. Aus den teilweise an Märsche angelehnten Themen entwickeln sich irrwitzige, teilweise groteske Klangkaskaden, die sich immer wieder in ruhige, aber oftmals schmerzvolle Bilder auflösen. Binnen weniger Takte können sich Jahrmarktmusiken zu apokalyptisch anmutenden Clustern auftürmen, die schließlich voller Sarkasmus in idyllischen Vogelstimmen münden. Der deutsche Komponist Alfred Schnittke sieht diese Symphonie denn auch als das ‚Lebensdrama‘ Schostakowitschs, der hier seine Horrorvision eines Marsches zur Hinrichtung auskomponiert habe“ (Balcerowiak, in ND, 8. September 2016, S. 17). 

 

Schostakowitsch zog – auf Empfehlung des Direktors der Leningrader Philharmonie – die Symphonie zurück. Er befürchtete. sie würde einer formalistischen Ästhetik bezichtigt werden. Die 4. Symphonie wurde erst am 30. Dezember 1961 – 35 Jahre später und  acht Jahre nach Stalins Tod – erstmals aufgeführt und gedruckt.

Angesichts der Pressekampagne wandte sich Schostakowitsch Anfang 1936 um Hilfe an Michail Tuchatschewski (vgl. Schlögel, S. 478, a.a.O.), damals Marschall der Sowjetunion und Stellvertretender Volkskommissar für Verteidigung. Tuchatschewski aber wurde Ende Mai 1937 selbst als „Verschwörer“ verhaftet und erschossen.

Schon im Juni 1936 verstarb Maxim Gorki [3] , ein anderer Beschützer Schostakowitschs.
Zudem wurden auch einige enge Freunde und Verwandte Schostakowitschs verhaftet.

 

Im Frühjahr 1937 begann Schostakowitsch mit der Komposition der 5. Symphonie d-moll op. 47, z.T. in Leningrad, z.T. in einem Künstler-Erholungsheim auf der Krim. Herbort erkannte in dieser Symphonie Schostakowitschs „… neuen Weg, … per aspera ad astra, über Witz und Folklore, über Trauer und Klage … zur strahlenden Dur-Apotheose, … einen Hymnus auf den neuen, den positiven Menschen“ (Herbort, in „Zeit“, Nr. 34/1975, S. 31).

Schostakowitsch selbst meinte im Januar 1938 in einem Artikel: „Thema meiner Sinfonie ist das Werden der Persönlichkeit. In diesem durchgehend lyrischen Werk will ich den Menschen mit all seinem Erleben zeigen. Im Finale versuche ich, die tragischen Motive der ersten Sätze in lebensvollen Optimismus aufzulösen… Wenn es mir tatsächlich gelungen ist, all das in meine Musik hinein zu legen, was ich nach den kritischen Artikeln der Prawda durchdacht und empfunden habe, kann ich zufrieden sein. Der kompositorischen Arbeit an dieser Sinfonie ging eine lange innere Vorbereitung voraus… Die fünfte Sinfonie wurde nach dem Vorbild der klassischen sinfonischen Musik in viersätziger Form geschrieben. Sie ist ein typisches sinfonisches Werk und – wie mir scheint – verglichen mit meinen vorangegangenen Arbeiten im orchestralen Sinne ein Schritt weiter… Sehr befriedigt bin ich über den dritten Satz, indem es mir gelang, eine gewisse durchgehende Stimmung zu wahren. An diesem Satz sind nur Streich-und Holzblasinstrumente beteiligt. Die Blechbläser verschnaufen und sammeln Kraft für den vierten Satz, in dem ihnen viel Arbeit zuteil wird“ (Schlögel, S. 566/567, a.a.O.).

Seine 5. Symphonie d-moll op. 47 wurde – allerdings nicht von Schostakowitsch selbst - als „schöpferische Antwort eines Sowjetkünstlers auf gerechte Kritik“ bezeichnet.

Die subversiven „Subtexte", die Schostakowitsch in seine Sinfonien einbaute, hätten – meinte Solomon Wolkow - weder Stalin noch dessen Kulturexperte Andrej Schdanow erkannt.

Die 5. Symphonie wurde von dem damals noch wenig bekannten Dirigenten Jewgeni Alexandrowitsch Mrawinski (1903 - 1988) und den Leningrader Philharmonikern am 21. November 1937 in Leningrad zur Erstaufführung gebracht. Es wurde eine triumphale Premiere, das Werk gehört bis heute zu den meistgespielten Werken von Schostakowitsch. 

 

Kurt Sanderling [4] bemerkte zur 5. Symphonie: „Als ich zum ersten Mal die Fünfte von Schostakowitsch in Moskau spielte, war er zusammen mit  – ich glaube – Aram Chatschaturjan - im Konzert. Und ich spielte entgegen der Aufführungstradition den vierten Satz grundsätzlich anders. Statt pompös und mit Bombast zu beginnen, fuhr ich hinein im vollen Tempo wie eine Maschine, die alles niedermacht. Schostakowitsch kam nach der Vorstellung zu mir mit Chatschaturjan und sagte die üblichen lobenden Worte. Da fragte Chatschaturjan: ‚War nicht vielleicht das Tempo im vierten Satz am Anfang zu schnell?‘ Und Schostakowitsch sagte ganz aufgeregt: ‚Nein, nein! Lass ihn so spielen! Lass ihn so spielen!‘. Er hat es also zugelassen, dass dieses Stück viele Jahre nicht so gespielt wurde, wie er es sich vorgestellt hatte und so gibt es eine Reihe von Dingen in den Werken von Schostakowitsch, die - glaube ich – anders gemacht werden müssten. Was ich tat. Und er hat mich nicht korrigiert“ (Sanderling, zit. Brachmann, S. 5, a.a.O.).

 

 

In dem Roman „Leben und Schicksal“ von Wassili Grossman gibt es eine Szene, in der Strum, ein sowjetisch-jüdischer Kernphysiker, dem in der Presse „unsowjetische Ansichten“ und „Ideen politischer Feinde“ vorgeworfen wurden, von einem Freund die Abfassung eines selbstkritischen Reuebriefes empfohlen wird: „‘Was soll ich denn bereuen, was sind meine Fehler?‘ fragte Strum. ‚Ach, ist das denn nicht egal? Alle tun es doch – in der Literatur, in der Wissenschaft, auch die Parteiführer, und in Ihrer geliebteb Musik gesteht Schostakowitsch seine Fehler, schreibt Reuebrief und setzt danach seine Arbeit fort, als wäre nichts geschehen‘“ (Grossman, S. 813, a.a.O.). 

Seit 1937 lehrte Schostakowitsch an dem Leningrader Konservatorium.

 

 

Trotzdem wurde Schostakowitsch vierfacher Träger des Stalinpreises [5], der 1941 geschaffenen damals höchsten zivilen Auszeichnung der Sowjetunion:

·         erstmals 1941, für sein Klavierquintett g-Moll, op.57

·         1942 für die 7. Symphonie (Leningrader Symphonie) C-Dur, op.60

·         1950, für das Oratorium Das Lied von den Wäldern“, op. 81, und die Filmmusik zu „Der Fall von Berlin“, op. 82 sowie

·         1952, für Zehn Poeme nach Revolutionsgedichten“, für gemischten Chor a cappella, op. 88

 

 

Zu dem zweiteiligen Film „Der große Patriot“ (auch „Der große Staatsbürger“) von Friedrich Ermler (1898-1967) – gedreht 1937/39 – schrieb Schostakowitsch die Filmmusik (op. 52 & 55). Der Film thematisierte die Ermordung von Sergej Kirow 1934 und entwarf ein Bild von Bedrohung und Verschwörung. Er war einer der erfolgreichsten sowjetischen Filme dieser Jahre (vgl. Schlögel, S. 500, a.a.O.).

 

Am 22. Juni 1941 hörte Schostakowitsch auf dem Wege zu einem Fußballspiel (Zenit Leningrad gegen Lokomotive Moskau, … (Welches Ergebnis???) von dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion (Quigley, S. 94 ff., a.a.O.).

 

 

Faktisch rehabilitiert wurde Schostakowitsch erst mit dem Kriegsbeginn im Juni 1941: Er schrieb Lieder für die Soldaten der Roten Armee, hob – werbewirksam – Schützengräben aus und bewarb sich um die Aufnahme in die Volkswehr. Während der 900tägigen mörderischen Blockade hatte Andrej Alexandrowitsch Shdanow (1896 - 1948) als Parteisekretär und Nachfolger Kirows in Leningrad die oberste Gewalt inne (vgl. Bechtolsheim, S. 432, a.a.O.).

Die sowjetischen Behörden versuchten erfolgreich das Kulturleben im belagerten Leningrad aufrechtzuerhalten;  insgesamt gab es über 25000 öffentliche Vorführungen verschiedenster Art in diesem Zeitraum. In der Philharmonie spielten die Kontrabassisten im Winter 1941/42 in Schaffelljacken, die übrigen Streicher in gefütterten Baumwolljacken, „… in denen sie die Arme ungehindert bewegen konnten“ (Reid, S. 271, a.a.O.).

Vor allem aber vollendete Schostakowitsch im belagerten Leningrad den 1. Satz seiner neuen, der 7. Symphonie, die rasch zum Symbol des sowjetischen Widerstands gegen die angreifenden deutschen Faschisten wurde.

Die Symphonie – sie wurde bald die „Leningrader Symphonie“ genannt – entstand teilweise während der Blockade in der belagerten, hungernden Stadt.

Ein Extra-Kapitel, das 20. der „Blokada“ von Anna Reid trägt den Titel „Die Leningrader Sinfonie“ (vgl. Reid, S. 423, a.a.O.).

Schostakowitsch war in dieser Zeit der Feuerwehr zugeteilt und arbeitete unter Granatenbeschuss an dem Werk.

Nach dem Sekretär Schostakowitschs, Isaak Glikman, sollte das Variatiosnthema im 1. Satz der 7. Symphonie die „faschistische Invasion“ darstellen, ein düsterer Flöten- und Trommelmarsch, der elfmal mit wachsender Lautstärke wiederholt wird. Der Komponist selbst äüßerte, dass „… unausgelastete Kritiker mir … sicher den Vorwurf machen (werden), dass ich den ‚Bolero‘ von Ravel nachahmen würde. Sollen sie mir den Vorwurf machen, so jedenfalls klingt in meinen Ohren Krieg“ (Schostakowitsch, S. 23, a.a.O.).  

 

Später führte Schostakowitisch in seinen Memoiren aus, dass er bei den berühmten „faschistischen“ Flöten- und Trommelmarsch keineswegs nur an den Nationalsozialismus gedacht habe, sondern auch „… an ganz andere Feinde der Menschheit … Ich empfinde unstillbaren Schmerz um alle, die Hitler umgebracht hat. Aber nicht weniger Schmerz bereitet mir der Gedanke an die auf Stalins Befehl Ermordeten. Ich trauere um alle Gequälten, Gepeinigten, Erschossenen, Verhungerten. Es gab sie in unserem Lande schon zu Millionen, ehe der Krieg gegen Hitler begonnen hatte“ (Wolkow, 2003, S. 247, a.a.O.).  

Im Oktober 1941 allerdings wurde Schostakowitsch mit seiner Familie aus dem belagerten Leningrad zuerst nach Moskau ausgeflogen und gelangte dann nach Kuibyschew (seit 1990 wieder Samara) an der Wolga, wohin auch große Teile der Regierung und das diplomatische Korps ausgelagert waren.

In Kuibyschew vollendete Schostakowitsch die Symphonie, die verschiedene Premieren erlebte. Am 5. März 1942 wurde die 7. Symphonie vom ebenfalls ausgelagerten Orchester des Bolschoi-Theaters in Kuibyschew uraufgeführt. Die „Prawda“ schrieb dazu: „Die Siebte Sinfonie ist aus dem Gewissen des russischen Volkes hervorgegangen… Hitler konnte Schostakowitsch nicht einschüchtern; Schostakowitsch ist ein russischer Mensch“ (zit. n. Reid, S. 427, a.a.O.).

 

Mit dem Konzert vom 9. August 1942  (unter dem Dirigat von  Karl Iljitsch Eliasberg, 1907 - 1978) in der Leningrader Philharmonie wurde die 7. Symphonie erstmals im noch belagerten Leningrad aufgeführt, durch das von vielen Todesfällen sehr ausgedünnte Rundfunksinfonieorchester. Karl Eliasberg dirigierte ein Orchester aus 15 überlebenden Musikern seines Rundfunkorchesters und anderen Musikern, die eigens von der Front zu diesem Zweck abberufen worden waren.

 

Die Orchesterpartitur war mit einem Sonderflugzeug, das die Luftblockade durchbrach, in die Stadt gebracht. Das Konzert wurde von allen sowjetischen Rundfunksendern übertragen und über Kurzwelle in viele andere Teile der Welt. Das Konzert wurde mit Lautsprechern auch in das Niemandsland an der Front übertragen, so dass es auch viele der deutschen Belagerer hören konnten.    

Umstritten ist, ob die Aufführung von Artilleriefeuer der deutschen Belagerer begleitet war (vgl. Bechtolsheim, S. 429, a.a.O.).

Photos dieser Aufführung hängen bis heute in den Wandelgängen der St. Petersburger Philharmonie.  

Sarah Quigley historischer Roman „Der Dirigent“ schildert sehr einfühlsam und m.E. gut recherchiert die Entstehung der „Leningrader Symphonie“ (a.a.O.).

Die Leningrader Philharmoniker unter Leitung von Jewgeni Mrawinski waren nach Novosibirsk evakuiert worden, wo sie bereits im Juli die Siebte Symphonie mit großem Erfolg aufgeführt hatten. 

In Berlin wurde sie erstmals im Winter 1946/47 in der Deutschen Staatsoper unter Leitung von Sergiu Celibidache aufgeführt.

 

Die Moskauer Erstaufführung am 27. März – im Säulensaal des Kreml - fand ebenfalls unter lebensgefährlichen Umständen statt, doch selbst ein Luftalarm konnte die Zuhörer nicht dazu bewegen, die Schutzräume aufzusuchen. Stalin war daran interessiert, die Sinfonie auch außerhalb der Sowjetunion als Symbol des heroischen Widerstands gegen den Faschismus bekannt zu machen.

Im Juni und Juli 1942 folgten Aufführungen in London und New York, die mit großem Erfolg durch das Radio in viele Länder weltweit übertragen wurden. Arturo Toscanini leitete mit dem NBC Symphony Orchestra am 19. Juli 1942 in New York die erste Aufführung der Sinfonie in den USA. Schostakowitsch selbst aber beurteilte (insgeheim) Toscaninis Interpretation seiner Symphonie mehr als kritisch: „Er macht Hackfleisch aus ihr und übergießt das Ganze dann mit einer abscheulichen Sauce“ (zit. n. Reid, S. 428, a.a.O.). 

Schostakowitsch gelangte nach der New Yorker Erstaufführung – als Feuerwehrmann vor der Silhuette des brennenden Leningrad - auf die Titelseite der „Time“. Tatsächlich war  Schostakowitsch der Brandwache der Leningrader Luftabwehr zugeteilt gewesen und auf dem Dach des Leningrader Konservatoriums mit einem altmodischen Feuerwehrhelm fotografiert worden.

Die „Time“ untertitelte das Bild: „Trotz der Bomben, die in Leningrad explodierten, hörte er die Akkorde des Sieges“ (vgl. Abb. unten).

 

In den USA allein wurde die Leningrader Symphonie 1942/43 insgesamt 62 mal aufgeführt, oft verbunden mit öffentlichen Forderungen nach der Errichtung einer 2. Front. Das US-amerikanische Columbia Broadcasting System (CBS) zahlte 10 000 US-$ an die sowjetische Regierung für die Rechte an der nächsten, noch ungeschriebenen Symphonie Schostakowitschs.  Die sowjetische Presse lobte Schostakowitsch über alle Maße  - er selbst meinte später, diese Erfolge seien ein „neuer Sargnagel“ für ihn (zit. n. Reid, S. 428, a.a.O.). 

„Ich widme meine Siebente Sinfonie unserem Kampf gegen den Faschismus, unserem unabwendbaren Sieg über den Feind, und Leningrad, meiner Heimatstadt ...“ schrieb Schostakowitsch am 29. März 1942 in der Prawda.

Die Sinfonie wurde als Hommage an den Widerstandswillen der von deutschen Truppen eingeschlossenen hungernden Bevölkerung aufgefasst. Die Interpretation der Sinfonie bleibt dabei bis heute umstritten. Die „Memoiren“ selbst sprechen davon, dass Schostakowitsch weder Hitler noch Stalin als Ziel seiner Sinfonie sah. Vielmehr findet sich im ersten Satz ein Motiv, das entweder als „Hitler-“ oder als „Stalin-Motiv“ gedeutet wird. Tatsächlich handelt es sich dabei um eine Variation auf das Gewaltthema aus der Oper Lady Macbeth von Mzensk. Es taucht in einer Form auf, die in der Oper für die staatliche Gewalt in Form der Polizei und als Bedingung für den Mord verwendet wird. Die 7. Sinfonie wurde Schostakowitsch aufgrund ihrer nicht eindeutigen Auslegung in den Reden Schdanows im Umkreis der Verfolgung sowjetischer Komponisten 1948 vorgeworfen.

 

Vor allem die „Leningrader Sinfonie“ wurde in der Sowjetunion (und der DDR) zu einer Art rituellem Weihespiel für staatliche Großereignisse.

 

So spielte z. B. das renommierte Berliner Sinfonie-Orchester unter dem (DDR-Nationalpreisträger) Kurt Sanderling im Berliner Metropoltheater am Vorabend des Parteitagsabschlusses im Juni 1971 die 7. Sinfonie von Schostakowitsch „… zu Ehren des VIII. Parteitages der SED“ („Berliner Zeitung“, 15. Juni 1971, S. 49).  

 

 

 

 

 

Auch Solomon Wolkow passte sich an den Nachwende-Trend an. Er betont in seinem neuen Buch „Stalin und Schostakowitsch – Der Diktator und der Künstler“ von 2004, die Siebte Symphonie sei vorrangig als Musik gegen den Stalinschen Terror geplant gewesen, habe aber durch den Nazi-Angriff eine andere Bedeutung erhalten. Der große Erfolg der Symphonie sei hauptsächlich auf die Propagandakampagne sowohl Stalins als auch der Amerikaner zurückzuführen. Andere Komponisten wie Béla Bartók oder Sergeij Rachmaninow hätten sie jedoch gleich nach den ersten Aufführungen im Ausland kritisiert. Er endet seine Bemerkungen mit: „Die Siebente Symphonie war stets ein leichtes Ziel: eine sonderbare, nicht zusammenpassende Mischung aus Mahler und Strawinsky, beim ersten Hören zudem viel zu lang und emotional zu offen“ (Wolkow, 2004, S. 278, a.a.O.) 

Schostakowitsch selbst urteilte über die Kriegszeit wie folgt: „Die Wahrheit ist: Der Krieg hat mir geholfen. Er brachte unsagbares leid und Elend. Das Leben wurde sehr, sehr schwer. Doch vor dem Krieg war es noch schwerer, weil jeder mit seinem Leid allein war“ (Schostakowitsch, zit. n. Bechtolsheim, S. 432, a.a.O.).

 

Im Jahre 1943 zog Schostakowitsch mit seiner Familie nach Moskau um und nahm an dem dortigen Konservatorium einen Lehrauftrag an.

Nach dem plötzlichen Tod seines Freundes Iwan Sollertinski 1944 widmet ihm Schostakowitsch sein Zehntes Klaviertrio; es war eine Tradition russischer Komponisten, auf diese Weise Verstorbenen ein Denkmal zu setzen.

 

Die von Schostakowitsch 1944/45 komponierte 9. Symphonie Es-Dur op. 70 hatte durchaus nicht den – wohl vielfach erwarteten - Charakter einer Siegesmusik und scheint das Regime Stalins „gefährlich“ enttäuscht zu haben (vgl. Scholz, a.a.O.), - trotz der „heroischen“ Tonart. Seine nächste Symphonie schrieb Schostakowitsch erst nach Stalins Tod.

Vielleicht aber wollte Schostakowitsch mit dem 3. Streichquartett F-Dur op 73, komponiert 1946, dem Regime entgegenkommen. Es galt als ausgesprochenes „Kriegsquartett“, auch hatte der Komponist selbst den Sätzen programmatische Überschriften gegeben:

„I. Friedliche Unkenntnis der künftigen Katastrophen

II. Fernes Grollen von Unruhe und Vorahnungen

III. Die entfesselte Gewalt des Kriege

IV. Ehrung der Toten

V. Die ewige Frage – Warum? Und Wofür?“ (vgl. Scholz, a.a.O.).

Kurz nach der Uraufführung am 16. Dezember 1946 in Moskau durch das Beethoven-Quartett (ihm ist das Quartett auch gewidmet) strich Schostakowitsch die programmatischen Titel wieder, die Sätze hießen nun: Allegretto, Moderato con moto, Allegro non troppo, Adagio und Moderato.

 

Insbesondere der 3. Satz des Streichquartetts, Allegro non troppo, wurde als „parodistisch preußisches Stechschritt-Scherzo“ und der 4. Satz - in Form einer Passacaglia - als „expressiver Klagegesang“ gedeutet (vgl. Scholz, a.a.O.). Der eindrucksvolle Schlusssatz der Quartetts verklingt pianissimo.

 

Der Bratscher und Dirigent Rudolf Barschai (1924 – 2010), ein Freund Schostakowitschs, fertigte von mehreren Streichquartetten Kammerorchesterfassungen an, die z.T. von Schostakowitsch selbst noch autorisiert und ins offizielle Werkverzeichnis aufgenommen wurden.

Das 3. Streichquartett wurde allerdings erst Jahre nach Schostakowitschs Tod, 1990, bearbeitet. erlebte jedoch – als „Kammersinfonie“ (op. 73a) eine Reihe von erfolgreichen Aufführungen, so z.B. im April 2016 im Berliner Konzerthaus.

Insgesamt gehört das 3. Streichquartett zu den eingängigsten und beliebtesten Kompositionen Schostakowitschs.

 

Andrej Shdanow (1896 – 1948),  der während der Belagerung Leningrader Parteisekretär gewesen war, wurde nach dem 2. Weltkrieg unter Stalin „Kulturkommissar“ und damit Leitfigur einer nach ihm benannten repressiven Kulturpolitik, der sogenannten Shdanowschtschina.

Öffentlich angegriffen wurden u.a. Schriftsteller wie Achmatowa, Pasternak und Soschtschenko, Regisseure wie Eisenstein oder Komponisten wie Prokofjew und auch Schostakowitsch. Nicht nur gegen ihn wurden erneut Formalismus-Vorwürfe erhoben. Einige seienr Werke durften nun nicht mehr aufgeführt werden, auch verlor Schostakowitsch seine Lehraufträge.

Shdanow urteilte kurzschlüssig: „Dissonanzen sind volksfeindlich“ (zit. n. Spiegel“, Nr. 26/1978, S. 167). Shdanow soll gelegentlich Schostakowitsch – beispielhaft – auf dem Klavier „politisch korrekte Melodien“ vorgespielt haben (vgl. Reid, S. 31, a.a.O.). Von Shdanow stammte die Verunglimpfung, manch ein Künstler sei ein „Speichellecker des Westens“ („низкопоклонство перед Западом“).

Shadanow hielt am 25. September 1947 zur Gründung des Kominform (i.e. „Kommunistisches Informationsbüro“, bis 1956) als Vertreter der sowjetischen Delegation die berühmte Zwei-Lager-Theorie-Rede, ein wichtiger Meilenstein zum Kalten Krieg.

 

Im Jahre 1948 erkrankte Shdanow [6] und starb am 31. August 1948 an einem Herzinfarkt und wurde an der Kremlmauer [7] beerdigt.

Auf dem 19. Parteitag der KPdSU im Oktober 1952, dem ersten seit dem 2. Weltkrieg und dem letzten Stalins Lebzeiten, hielt dieser ein kulturpolitisches Referat. Stalin führte aus, die Kunst müsse zur Hebung des Bewusstseins der Werktätigen beitragen, dütfr sie nicht verwirren. An einer solchen Verwirrung könnten nur „kriegslüsternen Feinde der Menschheit“ ein Interesse haben (zit. n. Müller, 1993, S. 13, a.a.O.).

Als Folge des Shdanow-Erlasses von 1948 waren eine Reihe seiner Kompositionen unaufführbar, er komponierte vier Jahre lang für die Schudlade (so das 1. Violinkonzert, das 4. und 5. Streichquartett sowie der Liedzyklus Aus der Hebräischen Volkspoesie). In diesen Jahren war Filmmusik Schostakowitschs einzige zuverlässige Einnahmequelle.

 

Im Juli 1950  nahm Schostakowitsch am Leipziger Bach-Fest zum Gedenken an den  200. Todestag von Johann Sebastian Bach teil (vgl. Abb. unten). Schostakowitsch übernahm in Leipzig  kurzfristig einen Solopart in Bachs Konzert d-moll für drei Klaviere.

 

In Leipzig beeindruckte ihn insbesondere das Spiel der damals 26jährige Pianistin Tatjana Petrowna Nikolajewa [8] (1924 – 1993). Schostakowitsch war Jury-Mitglied, Nikolajewa wurde in Leipzig eine Gewinnerin des 1. Internationalen Bach-Wettbewerbs. Aus der Begegnung entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft.

 

Darüber hinaus wurde sie der eigentliche Auslöser für seine Komposition der 24 Präludien und Fugen für Klavier solo op. 87, die zwischen dem 10. Oktober 1950 und dem 25. Februar 1951 entstanden und für Nikolajewa komponiert woden waren. 

 

Die Komposition war eine bewußte Auseinandersetzung von Schostakowitsch mit der Musik Bachs, auch ein Akt der Verehrung für Bach. Er bekundete, wie sehr er das „Wohltemperiertes Klavier“ bewundere, und dass es reizvoll sein müsse, diese „phantastische Tradition“ fortzusetzen.

 

Allerdings folgte er nicht der Struktur des „Wohltemperierten Klaviers“ (dem Aufbau in der Folge der Halbtonschritte), sondern - wie bei Chopins 24 Préludes op. 28 (1836/39) – der Quintenzirkelfolge aufwärts: Jeder Dur-Tonart folgt die parallele moll-Tonart;.beginnend mit C-Dur, gefolgt also von a-Moll, dann G-Dur und e-moll ect. Der gesamte Zyklus endet nach einer Dauer von etwa 2 ½ Stunden mit einer großen Doppelfuge in d-Moll. 

Schostakowitsch reichte den Zyklus beim sowjetischen Komponistenverband ein und durfte in den folgenden Monate mehrfach Teile daraus öffentlich aufführen, allerdings nur für ein ausgewähltes Publikum. Das Werk wurde nicht  mit Wohlwollen aufgenommen. Die Uraufführung des gesamten Zyklus der 24 Präludien und Fugen fand mit Tatjana Nikolajewa am 23. 12. 1952 in Leningrad statt, auch die ersten Aufnahmen wurden später von ihr eingespielt.

Die 24 Präludien und Fugen gehören zweifellos zu den herausragenden Klavierkompositionen des 20. Jahrhunderts.

Die 13. Symphonie op. 113 „Babi Yar“ schrieb Schostakowitsch 1962 auf ein gleichnamiges Protestgedicht von Jewtuschenko, gegen Rassismus und Brutalität, auch in den eigenen Reihen.   

 

Die Uraufführungen seiner beiden Cello-Konzerte 1959 und 1966 erfolgten seinem Wunsch entsprechend durch seinen Freund Mstislaw Rostropowitsch.

Im Jahre 1959 entsteht „Chowanschtschina“, ein sowjetischer Film von 1959 nach dem Opernfragment von Modest Mussorgski (1839  -  1881) von 1872. Regie führt Vera Strojewa (1903 - 1991), das Buch stammt von Vera Strojewa, Anna Abramowa und Dmitri Schostakowitsch.

„Chowanschtschina“ ( die „Sache Chowanski“) thematisiert die Verschwörung des Bojaren und Strelitzenanführers Iwan Andrejewitsch Chowanski (+ 1682, hingerichtet) gegen die (halbwüchsigen) Zaren Peter und Iwan sowie die Regentin Sofia. Die Strelitzen waren die Moskauer Palastgarde.

Mussorgski hatte in der Oper den gescheiterten Strelitzen-Aufstand mit den Auseinandersetzungen zwischen den orthodoxen Altgläubigen (abwertend, die „Raskolniki“ „die Abspalter“) und den Neugläubigen (nach der Synode 1666/67), sowie der Machtergreifung Peters (1672 – 1725; reg. 1689-1725) verbunden. Nach der Absetzung Sofias wird deren Geliebter und Günstling Wassili Wassilijewitsch Golitzin (aus der einflussreichen Fürstenfamilie, 1644 – 1714) nur verbannt (nicht hingerichtet). Die Oper endet mit der rituellen Selbstverbrennung Altgläubiger und der Führung ihres Popen Dossifei (einer nicht-historischen Person), in der Hoffung auf ein besseres Leben im Jenseits.   Der slawophile (und alkoholkranke) Mussorgski strebte die Schaffung einer russischen Volksoper an, sie blieb aber Fragment, das von seinem Freund Nikolai Rimski-Korsakow (1844 - 1908) – allerdings nach eher westlichen Operntraditionen und Hörgewohnheiten – vollendet wurde.

In der Fassung Rimski-Korsakows wurde die Oper im Jahre 1886 uraufgeführt.

Vera Strojewa und Dmitri Schostakowitsch versuchten in ihrer Opernverfilmung sich der Musik Mussorgskis anzunähern, mit viel Pathos und an Eisenstein gemahnenden Massenszenen.

Schostakowitschs Überarbeitung der Oper „Chowanschtschina“ wurde 1960 in Leningrad uraufgeführt. Bis heute wird in der Regel diese Fassung der Oper aufgeführt.

 

Die Tage vom 9. bis zum 15. Juli 1960 verbrachte Schostkowitsch in dem Kurort Gohrisch, im dortigen Gästehaus des Ministerrates der DDR. Er sollte in Dresden zusammen mit dem sowjetischen Regisseur Lew Oskarowitsch Arnstam (1905-1979) an dem Film „Fünf Tage – fünf Nächte“ arbeiten, einem ostdeutsch-sowjetischen Propagandafilm über die Evakuierung von Dresdner Kunstschätzen 1945 durch Spezialisten der Roten Armee nach Moskau. Schostakowitsch sollte die Filmmusik schreiben. In Gohrisch arbeitete er jedoch nicht an der Filmmusik, sondern er komponierte hier zwischen dem 12. und 14. Juli 1960 sein als sehr persönliches Werk geltendes 8. Streichquartett c-Moll op. 110. Es wird heute als eines seiner bedeutendsten Werke angesehen, ein autobiographisches Werk, und das einzige Werk, das Schostakowitsch außerhalb der Sowjetunion komponierte [9].
Teile des Streichquartetts verwendete Schostakowitsch auch in der Musik zum Film „Fünf Tage – Fünf Nächte“ (op. 111). Es spielte das Staatliche Symphonische Filmorchester Moskau unter der Leitung von Grigori Gamburg.

 

Leonard Bernstein hielt das Spätwerk des Komponisten, die 14. Symphonie von 1969, für „ein überragendes Meisterwerk“ (zit. n. „Spiegel“, Nr. 26/1978, S. 166). 

 

Im Mai/Juni 1972 kam Schostakowitsch mit seiner jungen Frau Irina nach (Ost-) Berlin, zur Erstaufführung seiner 15. Symphonie. Anschließend verbrachte er erneut einige Wochen in dem Gästehaus in Gohrisch in der Sächsischen Schweiz. Dort besuchte ihn u.a. sein Freund, der Dirigent Kurt Sanderling, damls Chefdirigent die Dresdner Staatskapelle.

 

Kurt Sanderling – der Schostakowitsch gut kannte – formulierte zu dessen Musik: „Bei Schostakowitsch kommt hinzu, dass er ja eine Musik schrieb, die das eine bedeutete, aber von der er selbst zugleich glaubte angeben zu müssen, sie bedeute etwas anderes“ (zit. n. Brachmann, S. 5, a.a.O.).

 

Schostakowitsch habe – urteilte Kurt Sanderling – „… ein Leben lang, nicht zu Unrecht, unter Verfolgungswahn“ gelitten  (Sanderling, zit. n. Brachmann, S. 5, a.a.O.).

 

Noch 1971 betitelte er – nach Sanderling – deshalb den ersten Satz seiner 15. Sinfonie mit „Ein Spielwarenladen“, es sollte ja eine heitere Sinfonie sein, denn „Optimismus war ja Staatsphilosophie“ (zit. n. Brachmann, S. 5, a.a.O.).

 

Nach der ersten Aufführung der 15. Sinfonie in der Berliner Staatsoper 1972 durch das russische Staatsorchester saß Sanderling neben Schostakowitsch in der Staatsopernloge und war verunsichert, denn er hörte etwas anderes im 1. Satz. Er wandte sich deshalb Schostakowitsch zu und fragte: „‘Sagen Sie, Dmitrij Dmitrijewitsch, irre ich mich – oder ist das ein zutiefst tragisches Werk?‘. Und er wandte sich zu mir um und sagte mit tiefer Stimme: ‘Sie irren sich nicht‘“ (Sanderling, zit. n. Brachmann, S. 5, a.a.O.). Aufgrund der politischen Situation habe Schostakowitsch selbst seinen Zuhörern das Werk erstmal verschlossen, man müsse nach Sanderling immer die Lebensumstände Schostakowitschs bei der Interpretation seiner Musik berücksichtigen.   

 

 

Die St. Petersburger Philharmonische Gesellschaft wurde 1802 gegründet, die älteste Europas. Die Philharmonie in der Michajlowskaja-Straße 2 wurde 1839 nach Entwürfen von Carlo Rossi vollendet, als Festsaal des Adelsclubs. Seit 1888/89 wurde der Festsaal, der Große Saal  (Большой зал) regelmäßig als Konzertsaal genutzt, später ging das Gebäude in den Besitz der Philharmonie über (vgl. Bechtolsheim, S. 436, a.a.O.). 1975 wurde der der Philharmonie der Name von Dmitri Schostakowitsch beigefügt.

„Wie Gustav Mahler, den er verehrte, wurde auch Schostakowitsch zum Tragiker der Musik, in dessen Partituren Pessimismus, Resignation, eine schon gespenstische Ironie – etwa im marionettenhaft-exotischen, fast hölzern erstarrenden Ausklang seiner letzten Symphonie – und eine höchst ausdrucksvolle Pantomimik der Angst die scheinbare Allmacht des Todes, die radikale Endlichkeit des materialistischen Menschen beklagen“ (vgl. Spiegel, Nr. 26/1978,  S. 168).

 

Für den Musikwissenschaftler und -kritiker Hans Heinz Stuckenschmidt (1901 - 1988) war Schostakowitsch „… das tragische Genie der erzwungenen Selbstrevision“ (zit. n. Spiegel“, Nr. 26/1978, S. 167).

 

Mstislaw Rostropowitsch, ein Freund Schostakowitschs und ein Vorkämpfer seiner Musik, meinte: „Die Musik Schostakowitschs – das sind wir, unser bis ans Ende nicht völlig erfasstes Leben. In dieser Musik steckt die ganze weite Amplitude unseres Lebens, Enttäuschung, tragische Situationen aber auch Heiteres, Helles, stolze Hoffnungen. Schostakowitschs Kunst ist im höchsten Maße menschlich.“

(zit. n. Jachimowicz, a.a.O.).

 

Nach der Auffassung von Daniel Shitomirski ( + 1992) sprach aus der Musik von Schostakowitsch „… unsere eigene Zeit, unsere eigene ungeschönte Realität, durch deren ‚Kreise‘ er uns, seine Zeitgenossen, auf dieselbe Weise führte, wie die Gestalt des Vergil in Dantes ‚Göttlicher Komödie‘. Es glich einem Wunder, dass das sogar in der Situation der 30er und 40er Jahre möglich war, wenn auch nur in der Musik … Ich kenne keinen anderen russischen Künstler, der in jenen Jahrzehnten etwas ähnliches hätte zustande bringen können …“ (vgl. Shitomirski, S. 218, a.a.O.).   

Im „Prawda"-Nachruf wurde Schostakowitsch, drei Tage nach seinem Tod am 9. August 1975, das allerhöchste offizielle Gütesiegel aufgedrückt: „Ein treuer Sohn der Kommunistischen Partei, eine angesehene Persönlichkeit des gesellschaftlichen und des staatlichen Lebens, ein seinem Staat ergebener Künstler“, der „.. sein ganzes Leben der Entwicklung der sowjetischen Musik, der Bekräftigung der Ideale des sozialistischen Humanismus und dem internationalistischen Kampf für Frieden und Völkerfreundschaft gewidmet hat …Durch seine Neuerer-Schöpfung bestätigte und entwickelte er die Kunst des sozialistischen Realismus" (zit. n. Shitomirski, S. 219, a.a.O.). Es folgten die Unterschriften von  L. I. Breschnew und allem, was sonst Rang und Namen hat in Politik und Kultur der Sowjet-Union hatte.

In der „Zeit“ urteilte Heinz Josef Herbordt: „Dieses Pendeln zwischen der Experimentierfreudigkeit eines mit Phantasie ebenso wie mit Können begabten Neutöners und der verschreckten Reserviertheit eines mehr in einer Art Angstreaktion auf Selbsterhaltung bedachten übervorsichtigen, dem Inhalt, nicht der Form sich verpflichtenden Programm-Musikers; dieses Hin und Her zwischen einer sich fast schon ins Chaos verlierenden Selbstbefreiung und einem Gehorsam, der sich gern in die ebenso strengen und einengenden wie Sicherheit verleihenden dogmatischen Prinzipien flüchtet; dieser Wechsel von Positionen und Zielen, Inhalten, Mitteln und Absichten ist in der Chronologie der Werke Schostakowitschs ablesbar“ (Herbort, in „Zeit“, 34/1975, S. 31).   

 

Schostakowitsch formulierte: „Über uns werden wieder andere schreiben, und sie werden lügen, was das Zeug hält“. Seine Erinnerungen erfüllen endlich, was sich der Musikwissenschaftler Hans Heinz Stuckenschmidt von einer zensurfreien Biographie Schostakowitschs erhoffte: Sie werfen „Licht auf die Kulturpolitik Sowjetrusslands und wohl auch auf die Erfahrungen, die aus dem jungen, unbekümmerten Musiker von 1930 den hypernervösen Nationalkünstler seiner späten Jahre machten".

  

Nach der Auffassung von Daniel Shitomirski ( + 1992) sprach aus der Musik von Schostakowitsch „… unsere eigene Zeit, unsere eigene ungeschönte Realität, durch deren ‚Kreise‘ er uns, seine Zeitgenossen, auf dieselbe Weise führte, wie die Gestalt des Vergil in Dantes ‚Göttlicher Komödie‘. Es glich einem Wunder, dass das sogar in der Situation der 30er und 40er Jahre möglich war, wenn auch nur in der Musik … Ich kenne keinen anderen russischen Künstler, der in jenen Jahrzehnten etwas ähnliches hätte zustande bringen können …“ (vgl. Shitomirski, S. 218, a.a.O.).  

 

Mstislaw Rostropowitsch, ein Freund Schostakowitschs und ein Vorkämpfer seiner Musik, meinte: „Die Musik Schostakowitschs – das sind wir, unser bis ans Ende nicht völlig erfaßtes Leben. In dieser Musik steckt die ganze weite Amplitude unseres Lebens, Enttäuschung, tragische Situationen aber auch Heiteres, Helles, stolze Hoffnungen. Schostakowitschs Kunst ist im höchsten Maße menschlich.“

(zit. n. Jachimowicz, a.a.O.).

 

Das Ergebnis der Erinnerungen von Schostakowitsch ist düster. „Wenn ich zurückblicke", klagt der berühmteste und wahrscheinlich sowjetischste Komponist „sehe ich nichts als Ruinen. Nur Berge von Leichen" (zit. n. Spiegel, 38/1979).

Oliver Becker (*1967) und Katharina Bruner (*1975) produzierten 2008 einen Dokumentarfilm zum Leben Schostakowitschs: „Dem kühlen Morgen entgegen[10], mit Armin Müller-Stahl in der Hauptrolle, sowie Gennadi Roschdestwenski, Mstislaw Rostropowitsch, Kurt Sanderling, Galina, Irina und Maxim Schostakowitsch, Solomon Wolkow sowie Tichon Chrennikow.  

 

Der Film erzählt die Lebensgeschichte Schostakowitschs, als die Geschichte eines Menschen, dessen Leben einem dramatischen Wechselbad zwischen Verdammung und höchsten staatlichen Ehrungen glich, einem Lehrstück über das Verhältnis von Kunst und Macht in einer Diktatur, von einem Künstler, der seine Kreativität und Phantasie in dem von Terror und Zwang geprägtem Stalinismus immer wieder unterdrücken musste,  von dem „nur engste Freunde wussten, was in seinem Innern vorging", wie der Dirigent Mstislaw Rostropowitsch in dem Film formulierte.

 

Beispielsweise erzählt der Cellist Mstislaw Rostropowitsch in dem Film von dem Verbot der Oper „Lady Macbeth" durch Stalin: Schostakowitsch sei in tiefe Verzweiflung gestürzt, es wurde bei ihm eine lebenslange Angst ausgelöst, in der nächsten Nacht verhaftet zu werden.

Der Weg habe Schostakowitsch zwischen Anpassung und Widerstand geleitet, zwischen liniengetreuem Staatskomponist und „innerer Emigration“, zwischen polizeilichen Vorladungen und Verboten zu höchsten staatlichen Lobeshymnen, zwischen lebensgefährlichen Schmähartikeln gegen ihn und Ovationen für ihn. Immer wieder – so legen es nicht nur die filmischen Aussagen nahe – musste er Überzeugungen vorspiegeln, entgegen seinen Auffassungen agieren oder seine eigentlichen Überzeugungen in seiner Musik chiffrieren oder ironisch brechen Gab er dabei seine Integrität preis?

Schostakowitsch schrieb so in sich gebrochene Werke, zweifelnde Siegessymphonien oder bitterböse Operetten, leichte, unterhaltsam-witzige Stücke, aber auch zutiefst menschliche musikalische Anklagen gegen die Barbarei des Krieges.

 

Stilistisch ist das Filmportrait ein Mischgenre zwischen Dokumentar- und Spielfilm, in dem  Armin Müller-Stahl die Rolle des Regisseurs und Spurensuchers übernimmt. Er sichtet historische Archivmaterialien aus der Stalinzeit (Ausschnitte aus Spielfilmen, zu denen Schostakowitsch die Musik schrieb) und trifft Weggefährten, Freunde, Kollegen sowie Familienangehörige[11]. Zudem werden einige Schlüsselszenen der Biographie werdurch Marionetten-Spielszenen nachgestellt.

 

Tichon Nikolajewitsch Chrennikow (1913-2007) war sowjetisch-russischer Komponist und von 1948 an - einem Höhepunkt der Formalismus-Hysterie – bis 1992 Generalsekretär des sowjetischen Komponistenverbandes.  Mit seinem Stellvertreter, Dmitri Schostakowitsch, arbeitete er jahrelang eng zusammen. Für den Musikfunktionär blieb Schostakowitsch auch bei den Arbeiten zu dem Film immer noch ein linientreuer sowjetischer Staatskomponist.

 

Bei den Familienmitgliedern hingegen stand der Humanismus des Menschen Schostakowitsch klar im Vordergrund:Auch in Zeiten von Misstrauen und Angst habe er den Gleuben an das Gute im Menschen nicht aufgegeben. Die Erstausstrahlung des Films erfolgte auf 3sat am 6.12.2008.

 

Zur Erinnerung an die Aufenthalte Schostakowitschs in Gohrisch werden dort seit 2010 die „Internationalen Schostakowitsch-Tage“ begangen, verbunden mit der jeweiligen Verleihung des Internationaler Schostakowitsch Preisen. Mit dem Preis sollen Persönlichkeiten gewürdigt werden, die sich in besonderer Weise um das Schaffen Schostakowitschs verdient gemacht haben.

Die bisherigen Preisträger waren:  

Internationaler Schostakowitsch Preis 2010.  Rudolf Barschai (1924-2010), 2011, Kurt Sanderling (1912-2011), 2012, Michail Jurowski, 2013, Natalia Gutman, 2014, Gidon Kremer, 2015, Borodin Quartett und 2016, Gennady Rozhdestvensky.

 

Im Juni 2016 fanden in Gohrisch die 7. Schostakowitsch-Tage statt, mit u.a. einem Vortrag der Bonner Musikwissenschaftlerin Friederike Wißmann zum Thema: „Schostakowitsch und Eisler – Komponisten im Schatten des Eisernen Vorhangs“.

 

(unveränderlich, nach dem Gregorianischen Kalender)
© Christian Meyer
[1] Bis 1914 und erneut seit 1991 trägt die Stadt den Namen St. Petersburg. Von 1914 – 1924 hieß sie Petrograd und zwischen 1924 und 1991 Leningrad.
[2] Der damals gefährlich Vorwurf des Formalismus behauptete, die Musik sei zu „kompliziert“, nicht volkstümlich genug und dem Geschmack der Massen nicht zugänglich. Auch Beförderer von Schostakowitschs Musik, wie z.B. sein Freund und Förderer, der Musikkritiker Iwan Sollertinski (1902 – 1944) wurden in der sowjetischen Presse heftig attackiert. Schostakowitsch widmete dem Andenken seines Freundes sein 2. Klaviertrio.
[3] Vergleichbare Brüche – kognitive Dissonanzen – wie bei Schostakowitsch finden sich auch im Leben von Maxim Gorkij, zwischen z.B. seinen Publikationen in der Zeitung „Nowaja Shisn“ (Neues Leben) 1917/18 und dem aus Italien zurückgekehrten „Seeleningenieur“ in Stalins Diensten (vgl. Lasky, a.a.O.). In den Zeitungsartikeln setzte sich Gorkij für eine uneingeschränkte Presse- und Redefreiheit ein, gegen Folter, Gewalt und Terror („… ich will immer sagen …, dass man den Sieg der sozialen Gerechtigkeit mit Mord, Gewalt und ähnlichen Methoden nicht erzwingen kann“; Gorkij, zit. n. Lasky,a.a.O.) und warnte die Bolschewiki vor der „Versuchung“ durch das „schmutzige Gift der Macht“ (Gorkij, zit. n. Lasky,a.a.O.). Die Zeitung Nowaja Shisn wurde im Sommer 1918 auf persönlichen Befehl Lenins eingestellt. Aus Italien zurückgekehrt lobte Gorkij die sowjetischen Erfolge, verkündete die Geburt eines Neuen Menschen, sah in den Lagern eine heilsame Straftherapie, verschwieg die Hungerkatastrophen und rechtfertigte die einsetzenden Säuberungen in Partei und Gesellschaft, - er verriet damit – wie der US-amerikanische antistalinistisch-linke Publizist Melvin J. Lasky (1920-2004) meinte – so seine eigenen Ideale (vgl. Lasky, a.a.O.).   

[4] Kurt Sanderling (1912 – 2011) war persönlich mit Schostakowitsch verbunden, denn er war 16 Jahre lang Co-Leiter der Leningrader Philharmonie.

Er wurde als deutscher Jude von den Nationalsozialisten ausgebürgert und ging 1936 zu einem Onkel in die Sowjetunion. Sein Onkel rettete dem jungen Kurt Sanderling vermutlich das Leben, da er ihm riet, für den sowjetischen Pass nicht „Deutscher“ sondern „Jude“ als Nationalität anzugeben. Sonst wäre er sehr wahrscheinlich im September 1941 nach Kasachstan evakuiert worden, was sehr viele der Sowjetdeutschen nicht überlebten (vgl. Brachmann, S. 4, a.a.O.).

Stattdessen wurde Sanderling – 29jährig – Co-Dirigent von Jewgenij Mrawinskij bei der Leningrader Philharmonie, die im Krieg nach Nowosibirsk evakuiert wurde.

Im Jahre 1952 rettete Schostakowitschs persönliche Fürsprache bei Stalin wahrscheinlich Sanderlings Leben, denn er sollte vor dem damaligen Parteikongress „gesäubert“ werden, - ein Wink Stalins machte die Entscheidung rückgängig (vgl. Brachmann, S. 4, a.a.O.).  

1960 ging Sanderling in die DDR und leitete bis 1977 das Berliner Sinfonie Orchester – das heutige Konzerthaus Orchester.   

 

[5] Der russische Schriftsteller Wassili Grossman erzählte in seinem Roman „Leben und Schicksal“ von Gefangenen in der Moskauer Lubjanka, die gemeinsam in ihrer Zelle mögliche Anklagepunkte erfanden, so z.B. ....
  • die eines Attentats auf Stalin
  • die Ablehnung des sozialistischen Realismus
  • die „Verunglimpfung“ von Kunstwerken, „… die mit dem Stalin-Preis ausgezeichnet wurden“ (vgl. Grossman, S. 764, a.a.O.).
[6] Von 1949 bis 1952 war Shdanows  Sohn Juri mit Stalins Tochter Swetlana Allilujewa verheiratet.

[7] Die dort bestatteten Personen erhielten sowjetische Ehrengräber. Juri Andropow wurde (bislang) im Jahre 1984 als letzter an der Kremlmauer beerdigt. Seit dem Ende der Sowjetunion werden dort keine neuen Gräber mehr vergeben.

[8] Nikolajewa erhielt 1951 für eigene Kompositionen den Stalin-Preis und wurde später Professorin am Moskauer Konservatorium

[9]  Die meisten kammermusikalischen Werke Schostakowitschs wurden im „Kleinen Saal der Philharmonie“ am Newski-Prospekt in Leningrad aufgeführt.

[10] Der Titel des Filmes zitiert ein Lied von Schostakowitsch. Am 12. April 1961 wurde das Lied von dem ersten Astronauten (Kosmonauten) Juri Gagarin an Bord der Wostok 1 über Funk für die Bodenkontrolle gesungen, die erste Musik im Weltall. Schostakowitsch hatte das Lied „Dem kühlen Morgen entgegen" 1932 als Filmusik für den Film „Der Gegenplan"  komponiert (op. 32).  Der Text des sehr populären Liedes stammte von Boris Kornilow. Schostakowitsch wurde des Liedes wegen des Plagiats beschuldigt, ein Vorwurf der nie ganz geklärt werden konnte. In einer deutschen Fassung wurde das Lied auch von Ernst Busch gesungen.

[11] Bei den Familienmitgliedern handelt es sich um seine Witwe Irena, seine Tochter Galina und seinen Sohn Maxim.

 

Schostakowitsch als Feuerwehrmann,

20. Juli 1942, Times; 

(Abb. aus Bechtolsheim, S. 356, a.a.O.)

 (Abb. aus Scholz, a.a.O.).

 

(Abb. aus "Dresdener Neueste Nachrichten", vom 8. Juni 2016, S. 9)