Ruine der 1755 zerstörten gotischen Kirche des Convento do Carmo in Lissabon; die Kirche wurde nicht wieder aufgebaut und ist heute ein Mahnmal zur Erinnerung an die Katastrophe (Photo: Christian Meyer, April 2016)

 

1. November 1755: Erdbebenkatastrophe von Lissabon

 

Am Allerheiligen – Tage des Jahres 1755 wurde die damalige reiche barocke Handelsmetropole Lissabon  - die portugiesische Hauptstadt war die viertgrößte Stadt Europas - durch ein schweres Erdbeben weitgehend zerstört. Durch eine bis zu 20m hohe Flutwelle wurde die gesamte iberische Atlantikküste bis hinunter nach Marokko überrollt, mehr als 100 000 Menschen sollen dadurch den Tod gefunden haben. Das Beben und der Tsunami gehörten  - nach heutigen Schätzungen mit einer Stärke von circa 9 auf der (nach oben offenen) Richter-Skala - vermutlich zu den zerstörerischsten Naturkatastrophen der gesamten menschlichen Geschichte.

 

Der junge Privatdozent Immanuel Kant (1724 - 1804) verfasste unter dem Eindruck der Katastrophe  drei kleinere Schriften, die 1756 in den Königsberger wöchentlichen „Frag-und Anzeigungsnachrichten“ publiziert wurden. Es handelte sich um:

  • „Von den Ursachen der Erderschütterungen bei Gelegenheit des Unglücks, welches die westliche Länder von Europa gegen das Ende des vorigen Jahres betroffen hat“
  • „Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens, welches am Ende des 1755sten Jahres einen großen Teil der Erde erschüttert hat“.
  • „Fortgesetzte Betrachtung der seit einiger Zeit wahrgenommenen Erderschütterungen“

In den Schriften setzte sich Kant zum einen mit den damals angenommenen Ursachen von Erdbeben auseinander.

Kant stützte sich bei seinen Aussagen über den Aufbau der Erde auf die damals aktuellen Veröffentlichungen von z.B. Georges – Louis Leclerc de Buffon ( 1707 – 1788).

Ähnlich wie Buffon glaubte der junge Kant, dass sich unter der festen Erdoberfläche wie auch unter den Meeren ausgedehnte Höhlungen und auf Pfeilern ruhende Gewölbe befänden, die wenn sie einstürzen, Erdbeben bewirken würden, auch quasi gleichzeitig  an weit von einander entfernten Orten.

Vielleicht als Erster erkannte Kant den Tsunami (natürlich ohne den Begriff zu kennen) als eine Folge des Erdbebens.

Andererseits trat Kant in den Erdbebenschriften einer „vulgärtheologischen Deutung“ entgegen, wonach die Katastrophe von Lissabon ein Strafgericht Gottes sei (vgl. Hartung, im „Tagesspiegel“, 21. März 2011, S. 23). Kant wies – immanent theologisch – auf die Anmaßung hin, über Entscheidungen Gottes informiert zu sein.

Schließlich beschäftigte sich Kant in den Schriften auch mit dem grundsätzlichen Verhältnis des menschen zur Natur und der moralischen Frage des Mitfühlens.

Die Katastrophe fordere – meinte Kant – vom Menschen Demut, „… dass sie ihn sehen lässt, er habe kein Recht, von den Naturgesetzen, die Gott angeordnet hat, lauter bequemliche Folgen zu erwarten“. Die Ereignisse von Lissabon lehrten auch, „… dass die Güter der Erde unserem Triebe zur Glückseligleit keine Genugtuung verschaffen können“ (Kant, zit. n. Hartung, in „Tagesspiegel“, 21. März 2011, S. 23).

Die moralische Botschaft kants lautete: „Der Anblick so vieler Elenden … soll die Menschenliebe rege machen und uns einen Teil des Unglücks empfinden lassen [1], welches sie mit solcher Härte betroffen hat. Man verstößt aber gar sehr dawider, wenn man dergleichen Schicksal jederzeit als verhängte Strafgerichte ansieht, die die verheerten Städte um ihrer Übeltaten willen betreffen“ (Kant, zit. n. Hartung, in „Tagesspiegel“, 21. März 2011, S. 23).

 

Das Erdbeben von Lissabon wurde als eine historische Zäsur empfunden, gilt als tiefer Einschnitt für die eupopäische Geistesgeschiachte. Wie Klaus Hartung treffend schrieb, „zerbrach durch die Katastrophe von Lissabon  der „Optimismus der Aufklärung, der sich in Leibniz’ Formel von der ‚besten aller Welten’“ ausgedrückt hatte (vgl. Hartung, im „Tagesspiegel“, 21. März 2011, S. 23).

 

Der deutsche Dichter Johann Christoph Gottsched fasst den Sachverhalt zusammen:

„Das prächtige Lissabon hieß lange schön und groß;

Doch eine halbe Viertelstunde

Verwüstet solches bis zum Grunde.“ ( vgl. Günther, 2005, S. 19, a.a.O.).

 

Die Zerstörung Lissabons 1755 durch das Erdbeben und den Tsunami war für Georg Philipp Telemann (1681 – 1767) der Anlass zur Komposition des geistlichen Oratoriums „Donnerode“ (TWV 6: 3a-b; nach einem Libretto von Johann Andreas Cramer, 1723 – 1788) , die der an einem vom damaligen Hanburger Senat angeordneten „Buß-, Fast- und Bettag“ am 11. März, zum Invokavit – Sonntag des Jahres 1756 in der Hamburger Jacobi-Kirche erstmals aufgeführt wurde. Textlich nahm jedoch nur das Bass-Duett „Er donnert, daß er verherrlicht werde“ mit  reichlicher Verwendung der Pauken indirekten Bezug.

 

(unveränderlich nach dem Gregorianischen Kalender)

 



[1] Auch in seinen späteren moralischen und politischen Schriften fordert Kant die menschliche Anteilnahme am leiden anderer. Er sieht in dieser „Empathie“ ein „Geschichtszeichen“ für den möglichen Fortschritt der menschen zum Besseren, zum „ewigen Frieden“. 

Zeitgenössische Darstellung der Erdbebenkatastrophe in Lissabon 1755 im Museum der Stadt Lissabon (Photo: Christian Meyer, April 2016)