Fremdenfeindliche Pogrome in Istanbul und anderswo, am 6. -7. September 1955

 

Um die Pogrome einordnen zu können, ist es m.E. nötig, einen kurzen Blick auf die politische und ökonomische Lage der Türkei 1955 zu werfen. Denn eine Reihe von Faktoren dieser Art dürften zu der Planung und Durch-führung der Pogrome beigetragen haben. 

Im Jahre 1950 vollzog sich nach den Wahlen vom 14. Mai der erste Machtwechsel seit Gründung der Republik, die vorherige Staats- und Einheitspartei CHP (Republikanische Volkspartei) wurde deutlich abgewählt, die De-mokratische Partei (DP) kam mit Adnan Menderes erstmals an die Regierung und vollzog eines Politikwechsel. In der DP waren u.a. Großgrundbesitzer stark vertreten, die die schon lange angekündigte Landreform fürchteten. 

Versprochen wurde, aus der Türkei ein kleines Amerika zu machen, ein Motto lautete: „In jeder Straße einen Millionär aufbauen“ (vgl. Şen, S. 45, a.a.O.). 

Der Etatismus wurde zu Grabe getragen, der staatliche Sektor wurde vernachlässigt, z.T. privatisiert. 

Der Außenhandel wurde liberalisiert. ausländische Kapitalgesellschaften angelockt. 

Durch anwachsende Importe und Inanspruchnahme von Krediten wuchs die Auslandsverschuldung der Türkei rapide an, zum ersten Mal seit Gründung der Republik.  

Zudem wurde die Politik der Blockfreiheit aufgegeben, 1950 beteiligte sich die Türkei militärisch an dem Koreakrieg, 1952 trat sie der NATO bei, US-Stützpunkte wurden eingerichtet.  

 

Eine besondere Rolle spielten auch die eskalierenden Konflikte um Zypern. Dort lebten nach dem 2.Weltkrieg ca. 120 000 türkischsprachige und ca. 450 000 griechischsprachige Zyprioten. Unter letzteren wuchs die Forderung nach einer „Enosis“, einem Anschluss an Griechenland. Da zudem diese Forderung seit 1955 auch durch gewalttätige Aktionen gegen die britische Kolonialmacht verstärkt wurden, wuchsen unter den türkischen Zyprioten Zukunftsängste. In einer Umfrage sprachen sich schon 1950 ca. 95% der griechischsprachigen Zyprioten für die „Enosis“ aus. Viele türkischsprachige Zyprioten hingegen forderten eine „Taksim“ (trk. „Teilung“) der Insel und dann einen Anschluss an die „Mutterländer“ (vgl. Steinbach, S. 428, a.a.O.). 

Für Udo Steinbach ist es klar: „Als es zu Ausschreitungen gegen türkische Zyprer kam, folgten am 6. September 1955 Pogrome gegen die griechischstämmige Bevölkerung in Istanbul und Izmir“ (Steinabch, S. 413, a.a.O.).   

 

Auch stieg in der Türkei seit 1950 der Nationalismus an, nicht türkisch sprechende ethnische Minderheiten wurden zuweilen scheel angesehen. Seit dieser Zeit waren z.B. auf den Bosporus-Schiffen Schilder mit der Auf-schrift: „Vatandaş, Türkçe konuş“ („Volksgenosse, sprich Türkisch“) fest installiert.  

Die Menderes-Regierung vollzog auch eine Abkehr vom kemalistischen Laizismus, eine Welle der Reislamisierung (vgl. Göktürk, S. 24, a.a.O.) überzog die Türkei. 

So hatte die republikanische Regierung im Rahmen ihrer Türkisierungspolitik durch eine Anordnung der Religi-onsbehörde DIYANET vom 18. Juli 1932 den Gebetsruf (Adhan/Ezan) landesweit in türkischer Sprache ver-pflichtend gemacht (vgl. Kreiser, S. 67, a.a.O.).  Im Jahre 1941 wurden der arabischsprachige Gebetsruf sowie die Iqāma (trk. Kamet, der Ruf zur Aufstellung zum Gebet innerhalb der Moschee) sogar mit einem strafrechtlichen Verbot (damals Art. 526 Abs. 2 im türkischen StGB) belegt. 

Wenige Wochen nach der Wahl, am 16. Juni 1950 nahm das neugewählte Parlament mit seiner DP-Mehrheit ein Änderungsgesetz an - das strafrechtliche Verbot des Gebetsrufes in arabischer Sprache zu „singen“, wurde aufge-hoben.  

Der arabischsprachige Gebetsruf wurde damit exakt zu Beginn des Ramadan 1369 n. d. H (nach dem Gregoria-nischen Kalender am 17. Juni 1950) türkeiweit wieder zugelassen (vgl. Jäschke, S. 76 ff, a.a.O.). 

Menderes selbst kündigte diese Politik wie folgt an: „Wir haben unsere bis jetzt unterdrückte Religion von der Unterdrückung befreit. Ohne das Geschrei der besessenen Reformisten zu beachten, haben wir den Gebetsruf wieder auf das Arabische umgestellt, den Religionsunterricht an den Schulen eingeführt und im Radio die Rezi-tation des Koran zugelassen. Der türkische Staat ist muslimisch und wird muslimisch bleiben. Alles, was der Is-lam fordert, wird von der Regierung eingehalten werden“ (Menderes, zit. n. https://de.wikipedia.org/wiki/Adnan_Menderes#Verh%C3%A4ltnis_zum_Laizismus).    

In der Folge wurden u.a. Islamhochschulen in Istanbul und Konya gegründet, islamwissenschaftliche Institute an vorhandenen Hochschulen ausgebaut. 

Schon seit 1949 konnten männliche Absolventen der Orta okul (Mittelschule)  in  İmam-Hatip-Kursen in 10 Monaten zum Vorbeter und Prediger ausgebildet werden. Im Jahre 1951 wurden - unter Menderes - die ersten İmam-Hatip-Gymnasien gegründet, deren Anzahl und Schülerzahlen sich seither enorm vermehrten.  

 

Insbesondere aber entwickelte sich die wirtschaftliche Situation der türkischen Bevölkerung negativ,  die Ar-beitslosigkeit wuchs, die Inflationrate stieg an, die Einkommen der masse des Volkes stagnierten.  

Die DP-Regierung begann von daher seit 1954 die Unterstützung immer breiterer Kreise der Wählerschaft zu verlieren. Auch wegen mangelnder Demokratieentwicklung spaltete sich 1955 die DP und es entstand eine dritte Partei, die Hürriyet Partisi (Freiheitspartei, vgl. Göktürk, S. 24, a.a.O.).     

 

War es angesichts der innenpolitische Schwäche der Menderes-Regierung und der Stärke exklusiver Ideologien nicht naheliegend, bei der Sündenbock – Suche auf die nicht-muslimischen Minderheiten zu stoßen?  

Bis 1955 lebten noch ca. 55 000 Griechen („Rumlar“) in Istanbul (vgl. Steinbach, S. 414, a.a.O.). 

 

Mustafa Kemal, der spätere Atatürk wurde am 1881 im damals noch osmanischen Thessaloniki (osm. „Selânik“) geboren. Nach den Balkan-Kriegen kam die Stadt 1913 zu Griechenland, Mustafa Kemals Geburtshaus überlebte die Kriegswirren. 

1933 wurde, anlässlich des 10. Jahrestages der Gründung der Republik Türkei, an dem Haus eine an Mustafa Kemal erinnernde Marmorplakette enthüllt, - von der Stadt Thessaloniki gestiftet. 1937 kaufte die Stadt sogar das Geburtshaus und schenkte es Atatürk, der allerdings - ohne das Haus wieder besucht zu haben - am 10. No-vember 1938 in Istanbul starb. 

1953 wurde das Haus nach Plänen des türkischen Historikers und Politikers Enver Ziya Karal (1908-1982) reno-viert und erhielt u.a. weitere Möbelstücke und Teppiche aus dem Dolmabahçe- und Topkapı-Palast in Istanbul  sowie Objekte aus dem Anıtkabir-Museum in Ankara. Im Erdgeschoss wurde eine Bibliothek eingerichtet, das Geburtshaus wurde dann als Museum wiedereröffnet. Auf dem Gelände in Thessaloniki wurde zudem ein türki-sches Konsulat eingerichtet. 

In der Nacht vom 5. zum 6. September 1955 explodierte am Haus In Thessaloniki eine Bombe und richtete er-hebliche Sachschäden am Geburtshaus sowie auch an umliegenden Gebäuden an. 

 

Am 6. September 1955 berichtete um 13.00 Uhr zuerst der türkische Rundfunk, im Geburtshaus des Staatsgrün-ders Mustafa Kemal Atatürk in Thessaloníki sei eine Bombe explodiert. 

Sofort druckte der „İstanbul Ekspres“ zwei verschiedene Nachmittags-Sonderausgaben mit dem Titel: „Das Haus unseres Vaters durch eine Bombe beschädigt“ (vgl. Abb. unten). Als Schuldige sah das Boulevardblatt „die“ Griechen. 

 

 

 

 

(unveränderlich, nach dem Gregorianischen Kalender)

 

Abb.: Titelseite einer Sonderausgabe des „Istanbul Ekspres“ vom 6. September 1955