Zum Begriff Völkermord

 

Schöpfer des Begriffs Völkermord war der polnisch – jüdische Jurist und Friedensforscher Raphael Lemkin  (1900 – 1959).

Lemkin wurde am 24. Juni 1900 als Sohn eines jüdischen Bauern im heutigen Weißrussland (Belarus) geboren. An der damals polnischen Universität Lemberg (Lwow/Lviv) erwarb Lemkin 1926 den juristischen Doktorgrad, studiert hatte er aber auch in Heidelberg.

1927 wurde Lemkin Sekretär des höchsten polnischen Gerichts, 1929 Staatsanwalt. In den 30er Jahren arbeitete er mit an der Zusammenfassung und Kodifizierung des polnischen Rechts, das sich aus dem Recht der Teilungsmächte, aus russischen, preußischen und österreichischen Wurzeln speiste. 

1939, nach dem deutschen Angriff auf Polen („Polenfeldzug“) gelang Lemkin die Flucht nach Schweden. Er führte eine ganze Reihe von Dokumenten mit sich, die Verbrechen der deutsch-faschistischen Okkupanten belegten. Lemkins gesamte Familie, bis auf seinen Bruder und seine Schwägerin, wurde ermordet. 1941 gelangte Lemkin durch eine Einladung der Duke University (Durham / Nord-Carolina) in die USA. 

 

Lemkin war ein früher Vorkämpfer für eine internationale Gerichtsbarkeit, denn die „Verrechtlichung (ist) ein Charakteristikum der Moderne“ (Nußberger, S. 29, a.a.O.). Schon 1931 legte er Völkerbundgremien in Brüssel, 1933 in Kopenhagen Vorschläge für einen internationalen Gerichtshof gegen Terrorismus vor.

Er hatte schon 1933 in Madrid  vor Völkerbundjuristen vorgeschlagen, eine internationale Konvention einzuführen, die weltweit eine völkerrechtliche Verurteilung und Bestrafung von Personen erlaubte, die an einer gezielten „Zerstörung nationaler, religiöser und rassischer Gruppen" beteiligt waren, - vergeblich. Lemkin führte diesen Misserfolg auch auf das Fehlen einer treffenden Begrifflichkeit für den Tatbestand zurück, Massenmord, Barbarei, Vandalismus oder Gräuel träfen den Sachverhalt nicht oder beschönigten ihn sogar.  Auch Zwangsmaßnahmen wie

  • Massendeportationen,
  • die erzwungene Senkung der Geburtenrate,
  • die wirtschaftliche Entrechtung und Enteignung
  • die Zerstörung der jeweiligen kulturellen Identität
  •  die gezielte Unterdrückung der Intelligentsia

sollten mit umfasst werden.

Spätestens seit 1941 suchte Lemkin nach einem passenden Begriff, um Verbrechen wie die des Osmanischen Reiches gegen die Armenier seit 1915 und die des deutschen NS-Regimes zu bezeichnen. 1943 hatte er ihn gefunden.

Er prägte im Jahre 1943 für einen Gesetzentwurf der polnischen Exilregierung zur Bestrafung der deutschen Verbrechen auf Polnisch den Begriff Völkermord als Ludobójstwo (von „lud“ = Volk und „zabójstwo“ = Mord). 1944 übertrug Lemkin den Begriff als „genocide“ (von gr. „genos“ = Volk und lat. „caedere“ = töten) ins Englische. Die Übersetzung ins Deutsche lautet Genozid oder Völkermord.

 

In seinem Buch „Axis Rule in Occupied Europe“ vom November 1944 definierte Lemkin den Begriff. Genozid sei „… ein koordinierter Plan verschiedener Aktionen, der auf die Zerstörung essentieller Grundlagen des Lebens einer Bevölkerungsgruppe gerichtet ist, mit dem Ziel, die Gruppe zu vernichten. … Genozid hat zwei Phasen: Eine erste, bei der die typischen Eigenschaften und Lebensweisen der unterdrückten Gruppe zerstört werden und eine zweite, bei der die Eigenschaften und Lebensweise der unterdrückenden Bevölkerungsgruppe der unterdrückten aufgezwungen wird. Diese Aufzwingung wiederum kann erfolgen, indem die unterdrückte Bevölkerungsgruppe bleiben darf oder sie wird sogar nur dem Gebiet allein aufgezwungen, indem die Bevölkerung beseitigt wird und eine Kolonisierung dieses Gebiets durch die unterdrückende Bevölkerungsgruppe folgt“ (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Raphael_Lemkin#Ver.C3.B6ffentlichung_seines_Sachbuches_Axis_Rule_in_Occupied_Europe).

Lemkin beschäftigte sich in seiner Schrift  mit den den Völkermord begleitenden Zerstörungen der kollektiven Identitäten. In seiner Sicht war Völkermord auch ein Kulturmord. Er führte darüber hinaus Erlässe, Gesetze und Verordnungen auf, die die Achsenmächte im okkupierten Europa erlassen hatten, wie auch Vorschläge für eine Restitution des Besitzes an die Enteigneten und zur Entschädigung der Zwangsarbeiter.

Der Begriff Genozid wurde rasch gebräuchlich, da eine Reihe US-amerikanischer Zeitungen ihn verwendeten, als sie gegen Ende des Jahres 1944 begannen, ausführlich über die Gräueltaten in Europa zu berichten.

 

1946 schlug Lemkin der UNO ein Gesetz gegen Völkermord vor, für das er 1947 einen Entwurf vorlegte. Der Entwurf wurde unwesentlich verändert die Erstfassung der "Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes", die am 9. Dezember 1948 durch Beschluss der UN-Vollversammlung mit 55 : 0 Stimmen angenommen wurde und am 12. Januar 1951 in Kraft trat, auch eine Antwort auf den Völkermord an den europäischen Juden durch die deutschen NS (vgl. Nußberger, S. 8, a.a.O.).  

 

Beim Nürnberger Prozess assistierte Lemkin dem US-Chefankläger Robert H. Jackson. Im März 1948 erhielt der mittlerweile staatenlose Lemkin an der Yale University einen Lehrauftrag. Lemkin wurde für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen, erhielt ihn aber nicht. Im Jahre 1955 erhielt er allerdings das deutsche Bundesverdienstkreuz  (vgl. Heinsohn, S. 235 ff., a.a.O.).

Lemkin starb völlig mittellos am 27. August 1959 in New York. Nicht einmal Geld für seine Beerdigung war vorhanden. Auf dem später gespendeten Grabstein (auf Mt. Hebrew Cemetery im Stadtteil Queens / New York) wurde die Inschrift „Father of the Genocide Convention“ angebracht.

 

Seit dem Jahre 1993 trägt eine Wissenschaftliche Einrichtung im FB 11 (Human - und Gesundheitswissenschaften) der Universität Bremen den Ehrennamen  Raphael-Lemkin-Institut für  Xenophobie- und Genozidforschung“. 

 

Definition des Völkermordes/Genozids gemäß dem Völkermord-Abkommen (Convention on the prevention and punishment of the crime of genocid, zitiert nach Karl Strupp/Hans-Jürgen Schlochauer a.a.O.):

„ Das Völkermord-Abkommen erklärt in Art I und II gewisse Angriffshandlungen gegen nationale, rassistische, religiöse oder durch ihr Volkstum bestimmte Gruppen in der Absicht, diese ganz oder teilweise zu zerstören, gleichgültig ob sie in Frieden oder im Krieg oder aber gegen eigene oder fremde Staatsangehörige begangen wurden, zum Verbrechen nach Völkerrecht.“

„.....als Verbrechen....(gelten)...:die Tötung und die schwere körperliche Schädigung von Angehörigen der Gruppe; die Schaffung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die dazu geeignet sind, sie physisch ganz oder zum Teil auszurotten; die Verhängung von Maßnahmen, die Geburten innerhalb der Gruppe verhindern sollen und die Zwangsverschleppung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.“
„Außer dem Völkermord als solchem sind nach Art III strafbar Versuch, Teilnahme und Verschwörung (conspiracy) und die öffentliche Aufreizung zur Begehung des Verbrechens.“
Völkermord durch Vertreibung wird dem durch physische Vernichtung gleichgesetzt.

Die Anti-Völkermord-Konvention trat am 12. Januar 1951 in kraft.

Nach Mihran Dabag [1] ist Völkermord kein spontaner Gewaltausbruch, vielmehr wird er durch politische Entscheidungen vorbereitet. Genozide haben – betonte er – eine Vorgeschichte, die eigentliche Geschichte und die Nachgeschichte (vgl. Schlott, 2016 b, S. 73, a.a.O.).

Zur Vorgeschichte eines Völkermordes gehören in der Regel ...

  • eine schrittweise Ausgrenzung der betroffenen Gruppe aus der Gesellschaft
  • die Konstituierung eines Selbstbildes der Gesellschaft, bei dem die betroffene Gruppe keinen Anteil mehr haben darf, als nicht-integrierbar gilt, eine einheitliche „reine“ Bevölkerung angestrebt wird
  • die betroffene Gruppe wird ideologisch, unter kultureller Hegemonie zu Verrätern, Feinden, Ausbeutern, Unmenschen etc. erklärt
  • von den Herrschenden wird die Lage zu einer Krise erklärt, für die die betroffene Gruppe verantwortlich gemacht wird
  • gesetzliche Diskriminierung und Ausgrenzung
  • die Gruppe wird in bestimmte Sondergebiete verbracht, Ghettobildung, Deportationen, Vertreibungen, Abschiebungen.

Diese Faktoren können als Indizien für einen bevorstehenden Völkermord angesehen werden.

 

Zur Vorgeschichte des Genozids an den Armeniern im Osmanischen Reich gehört z.B. das politische Lehrgedicht von Ziya Gökalp (1876-1924), in dem es u.a. heißt:

 

„Das Volk ist wie ein Garten,

wir sollen seine Gärtner sein!

Man schneide erst die schlechten Triebe

und pfropfe dann das Edelreis“.

 

                                                                              (Gökalp, zit. n. Schlott 2016 b, S. 74, a.a.O.)

 

Auch die Bücherverbrennungen vom 10. Mai 1933 waren - wie der Politologe Clemens Heni (* 1970) betonte - ein wichtiger Teilschritt zu den Nürnberger Gesetzen, zur Reichspogromnacht 1938 und zum Völkermord in Auschwitz und anderswo. 

Sind nicht alle Verbrechen gegen die Menschlichkeit Völkermorde??

 

Genozidale Züge hatten die Pogrome 1955 in Istanbul, der Tatbestand eines Völkermordes dürfte bei den Massakern in Indien/Pakistan 1947, von mehreren Seiten im Jugoslawien-Krieg, in Ruanda, in Darfur, in Syrien und dem Irak durch den IS gegenüber zumindest den Yeziden erfüllt sein. 

 

 

Nach der Völkermord-Konvention hat die internationale Staatengemeinschaft das Recht einzuschreiten, wenn eine Regierung gegen Teile der Bevölkerung solche Maßnahmen ergreift: In der Konvention heißt es zum Interventionsrecht::

„Eine vertragschließende Partei kann die zuständigen Organe der Vereinten Nationen damit befassen, gemäß der Charta der Vereinten Nationen die Maßnahmen zu ergreifen, die sie für die Verhütung und Bekämpfung von Völkermordhandlungen oder einer der sonstigen in Artikel III aufgeführten Handlungen für geeignet erachten“ (vgl. Anti-Völkermord-Konvention, Art. VIII).  Die Souveränität des „Täterstaates“ ginge verloren, wenn der Staat seiner Schutzverpflichtung nicht nachkomme.

Das geschieht allerdings in der Realität nahezu nie. Als 1994 in Ruanda das Morden an den Tutsi begann, forderte der General der dortigen Blauhelmtruppen Verstärkung an, statt dessen wurden seine Truppen verringert (vgl. Schlott, 2016 b, S. 75, a.a.O.).

Medardus Brehl, Literatur- und Geschichtswissenschaftler am Bochumer Institut für Genozidforschung formulierte dazu: „Die Staatengemeinschaft scheut sich oft, in die Souveränität eines anderen Landes einzugreifen, vor allem wenn keine wirtschaftlichen Interessen berührt werden“ (vgl. Schlott, 2016 b, S. 75, a.a.O.).

 

Vor allem seit die NATO – ohne UNO-Mandat - zum Schutze der Albaner im Kosovo Serbien bombardierte und hunderte von Zivilisten den Tod fanden, wird die Frage der Zulässigkeit solcher „Humanitären Interventionen“ kontrovers diskutiert.

Weiterhin verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten der Anti-Völkermordkonvention dazu, Menschen denen ein Völkermord angelastet wird, vor ein nationales oder internationales Strafgericht zu bringen.

 

In dem südafrikanischen Botswana ( „Land der Tswana“, ehemals Betschuanaland) [2] gibt es bis heute ca. 25 verschiedene Ethnien, das Land gilt vielfach als ein Vorbild friedlichen Zusammenlebens. Die namensgebenden Tswana sollen mit einem Anteil von ca. 75 % die größte Bevölkerungsgruppe darstellen, gefolgt von den nah verwandten Kalanga, wobei die Daten ungesichert und umstritten sind. Die Tswana sind seit 1992 verfassungsrechtlich verankert die dominante Ethnie. „Die Sprachpolitik, mit Setswana neben Englisch als einziger indigener offizieller Landessprache, bringt den anderen Völkern deutliche Nachteile und setzt sie einem ständigen Assimilationsdruck aus“ (Iwanowski, S. 50, a.a.O.).

Der frühere Richter des Obersten Gerichts in Botswana, John Mosojane, beklagte öffentlich, dass die Verfassung die Ungleichheit der Stämme befestige und die Bevölkerung Botswanas die Unabhängigkeit 1966 nicht als Gleiche erlangt hätte. Schon in der Namensgebung „Botswana“ sah er eine „genozidale“ Tendenz, ebenso in der Festlegung von Setswana als der einzigen nationalen Sprache, in der landesweit unterrichtet wird (vgl. Bule, S. 3, a.a.O.), was ständig zur Assimilation drängen würde.

Im Jahre 1972 wurde Ikalanga, die Sprache der Bakalanga (in Simbabwe und Botswana) als Unterrichtssprache abgeschafft. Die verschiedenen ethnischen Gruppen Botswanas würden bis heute als Unterstämme der Tswana minderen Rechts betrachtet, wie zurzeit des britischen Protektorats.

Philip Matante (1912 – 1977), der bei den ersten allgemeinen Wahlen 1965 unterlegene Oppositionsführer in Botswana, versuchte schon bei den Verfassungsverhandlungen 1966 eine Korrektur zu erreichen, konnte sich aber gegenüber dem späteren Präsidenten, Seretse Khama, und den Briten mit seinen Vorschlägen nicht durchsetzen.

Mosojane fordert Reformen für die Minderheitenstämme und eine Umbenennung des Landes, um eine Zukunft in Frieden, Gleichheit und gegenseitigem Respekt zu sichern (vgl. Bule, S. 11, a.a.O.).

 

Im Frühjahr 2024 schickte das russische Außenministerium in Moskau eine Note an das Berliner Auswärtige Amt, in dem. Deutschland ein „widersprüchlicher Umgang mit der Vergangenheit“ vorgehalten wurde: Verbrechen aus der Kolonialzeit würden als Völkermord anerkannt (so der anerkannte Genozid in Namibia), dagegen würden die deutschen Verbrechen während des 2. Weltkriegs in der Sowjetunion nicht ähnlich beurteilt. Verlangt wurde in der Note die Belagerung von Leningrad zwischen 1941 und 1944 nicht nur als Kriegsverbrechen, sondern als Genozid anzuerkennen. Während der deutschen Blockade Leningrads starben ca. eine Million Menschen (vgl. Tagesspiegel., 21. März 2024, S. 10, a.a.O.).

 

Täter in Völkermorden

 

Die schwierige Frage nach dem eigentlich Bösen, nach den Tätern der Völkermorde, kam wieder auf im Gefolge der Vielzahl von terroristischen Massakern weltweit.

Aufgrund welcher „Alchemie“ nehmen Menschen an Massenmorden teil? Womit rechtfertigen sie sich dabei, von welcher Entfremdung legen sie Zeugnis ab?  Gibt es dabei nicht Unterschiede zwischen „terroristische“ Einzeltätern und Mittätern bei staatlich organisiertem Terror? Bei letzteren v.a. kommt es zu dem intervenierenden Phänomen, das in der US-amerikanischen Ethologie „Shifting baselines[3], genannt wird, zu kollektiven Wahrnehmungsverschiebungen. 

Umstritten ist, wann und warum Menschen in einem Völkermord töten. Gibt es eine anthropologische Prä-Disposition zum Schergen? Ist es ...

  • die ideologische Überzeugung, einem angeblich richtigen, höheren Ziel zu dienen
  • die Hoffnung auf Vorteile, sei es ein Aufstieg in der jeweiligen Hierarchie, Anerkennung oder Anteil an dem Eigentum der Vertriebenen oder Ermordeten
  • die Bereitschaft zu gehorchen, zu tun, was von Seiten der Autoritäten erwartet wird, v.a. in Gewaltsituationen. Jörg Baberowski von der HUB meinte: „Gewalt lässt keinen unberührt, niemand kann sich ihrem Zwang entziehen“ (vgl. Baberowski, in Schlott, 2016 b, S. 77, a.a.O.).

 

Schon Adorno, Horkheimer u.a. untersuchten in ihrer klassischen 1949 erschienenen Studie zur „Autoritären Persönlichkeit" (Adorno, 1968, a.a.O.) die Bedeutung von Sozialen Vorurteilen und  Ethnozentrismus für die Struktur der Persönlichkeit. Als ethnozentrisch betrachteten sie alle Auffassungen, die die eigene Ethnie und ihre Kultur etc. als allen anderen übergeordnet ansehen. Für sie war der Ethnozentrismus als ein charakteristisches Element der Autoritären Persönlichkeit eine permanente Gefahr aller nationalstaatlichen Vorstellungen.

Die (relativ) stabilen Vorurteilsstrukturen autoritärer Persönlichkeiten bewirkten auch rassistische Diskriminierungen, Ausgrenzungen und Bereitschaft zu Unterordnung unter Autoritäten und zur Verfolgung von Minderheiten (vgl. Adorno/Horkheimer, S. 180, a.a.O.).

Die Studien Adorno/Horkheimers zur "Autoritären Persönlichkeit" ließen den Schluß zu, daß in allen Gesellschaften viele Menschen bereit sind, traditionell anerkannten Autoritäten gehorsam zu folgen, auch wenn diese Befehle erteilt, die klar allen ethischen Vorstellungen widersprechen.

 

Auch die Konformismus–Experimente des polnisch-US-amerikanischen Sozialpsychologen Solomon Asch 1951-55 (vgl. Schwartz, S. 175 ff.) zeigen deutlich, dass Gruppendruck zu einem massiven Konformitätsdruck führt. Sehr viele Menschen können durch den sozialen Kontext so beeinflusst werden, dass sie eine offensichtlich falsche Aussage als richtig bewerten.

Des weiteren legten die berühmten Stanley Milgram-Experimente seit 1961 nahe, dass es bei vielen Menschen eine latente, freiwillige Bereitschaft zur Unterwerfung unter Autoritäten verschiedenster Art gibt, auch ohne Androhung von Repressionen oder anderen Nachteilen. Die Experimente, die in vielen Staaten weltweit ganz ähnliche Ergebnisse erbrachten, zeigten eine weitverbreitete  Bereitschaft, andere zu quälen, ja zu töten, wenn eine Autorität es fordert.

Später betonte Milgram, dass Hannah Arendts Konzept der „Banalität des Bösen“, seinen Ergebnissen sehr nahe komme. Ganz normale Menschen, die einzig ihre Aufgabe, ihre vermeintliche Pflicht erfüllen wollten und keine Feindschaft empfänden, könnten durch die Autorität zu potentiell mörderischen Handlungen veranlasst werden: „Derselbe Mensch, der aus innerster Überzeugung Diebstahl, Tötung und Körperverletzung verabscheut, wird sich vielleicht doch in Akte des Raubens, Tötens und Folterns verstricken, sofern eine Autorität ihm den Befehl dazu gibt“ (Milgram, S. 9 und 22, a.a.O.).

 

Das Stanford-Prison-Experiment entfaltete eine derartige Eigendynamik, dass es vorzeitig abgebrochen werden musste (Zimbardo, a.a.O.).

In diesen Kontext gehört auch die Untersuchung des US-amerikanischen Historikers Christopher R. Brownings (* 1944) über das Hamburger Reserve-Polizeibataillon 101 („Ordinary Men“), dessen Mitglieder ebenfalls ohne ernstlichen Druck, ohne „Befehlsnotstand“, ohne Hass und Blutrünstigkeit innerhalb kurzer Zeit von normalen mittelalten Menschen, von Familienvätern, hinter der Front in dem besetzten Polen zu Massenmördern mutierten. Das Bataillon war verantwortlich für die Erschießung von Juden, bzw. deren Gefangennahme, um sie in die Vernichtungslager zu transportieren. Die Polizisten waren keine Dämonen oder fanatische Nazis, sondern normale Männer, die aus der Arbeiterklasse Hamburgs stammten. Den Männern wurde nachgewiesenermaßen die Wahl gelassen, auf die Ermordung der Juden zu verzichten, falls es ihnen unangenehm sei. Von 500 Mann aber wählten nur 15 diese Option. Browning schlussfolgert, dass die Männer der Einheit nicht aus Mordlust töteten, sondern aus dem Gefühl des Gruppenzwangs und Gehorsams heraus  und auf dem Hintergrund von Staatsgläubigkeit, falsch verstandenem Pflichtgefühl und Konformismus. Wie auch das Milgram-Experiment zeige, seien die meisten Durchschnittsmenschen zu derartigen Taten fähig. Es müsse nur eine Autorität die Befehle geben  (vgl. Browning, a.a.O.).

Ordinary Men“ wurde vielfach anerkannt, stark kritisiert jedoch von Daniel Goldhagen. Er warf Browning vor, dieser habe den starken Einfluss der deutschen Kultur und des Antisemitismus auf den Holocaust nicht angemessen beachtet.

Der französisch-jüdische Psychiater und Anthropologe Richard Rechtman beschäftigte sich jahrelang, gleichzeitig als Kliniker und Forscher, mit den Tätern von Völkermorden (vgl. Rechtman, a.a.O.), seien es ehemalige Khmer rouge (von April 1975 - Januar 1979), genozidären Hutu aus Ruanda (April  - Juli 1994), serbisch-nationalistische Milizionäre in Ex-Jugoslawien (1991-1995), tschetschenische Aktivisten, Angehörige des IS („Daech“) oder Mitglieder der Spezialkräfte von Bashar al-Assad aus Syrien (vgl. Rousset, a.a.O.).

Zu seinen Erfahrungen gehören darüber hinaus Berichte von Folterern aus dem Algerienkrieg der 50er Jahre und  französischer Dschihadisten des 21. Jhdts., oft mit der Nutzung prosopographischer Techniken [4] bei den Biographien und Berichten – ohne sich – wie Rechtman betont – von dem eigentlichen Untersuchungsobjekt, dem realen Verbrechen, abzuwenden. Natürlich gibt es auch in der Sicht von Rechtman unter den Lagerwächtern, den Tätern …

  • perversen Sadismus
  • den Mangel an Empathie mit den Gefangenen
  • den Korpsgeist
  • den abendlichen Alkohol zum „Abwaschen“ von heimlichen Zweifeln und der Einsamkeit
  • die Gier nach der Aneignung von Besitz der Opfer
  • die psychotrope Angst vor der Repression
  • die besondere Macht der Propaganda, obwohl sie falsch und verletzend ist
  •  die Faszination für einen Führer, dessen Grausamkeit als Zeichen von Reinheit gesehen wird
  • die Abstumpfung eines „Killers“ nach Stunden von Verbrechensketten
  • die Ermüdung düsterer Trunkenheit
  • der Taumel der Straflosigkeit
  • die Trunkenheit von partieller eigener Herrschaft
  • die Rhetorik des „guten Rechs“ (Jack Katz: das Verbrechen sieht sich immer im „guten Recht“) [5].

Alle diese Elemente werden von Rechtman nicht bestritten, aber sie reichten nicht zur Kennzeichnung des gesamten Bereiches aus. 

Für Rechtman ist die Figur des sadistischen Monsters, des blutgierigen Ideologen ein Mythos. Die Täter, die Henker seien nicht notwendigerweise die am Motiviertesten, am Überzeugtesten oder Indoktriniertesten. Aber unabhängig von den Überzeugungen und der Persönlichkeit der Täter beschäftigt sich Rechtman mit dem eigentlichen Tötungsakt und zeigt, dass Menschen ohne den Schatten von Gewissensbissen töten können. Es genügt, dass eine Umwelt dies begünstigt und autorisiert, und einige Menschen werden zu Massenmördern.

Die Leute müssen nicht „pervers oder Bastarde sein, um es zu töten, sie haben danach auch kein schlechtes Gewissen.

Genozidäre Personen sind in der Sicht Rechtmans Menschen, die bereit sind, an der systematischen Ermordung einer Bevölkerungsgruppe mitzuwirken, ohne sich moralisch verunsichern, beunruhigen zu lassen, im Gegensatz zu einer Mehrheit der jeweiligen Zeitgenossen. Rechtmans Erfahrung nach schliefen die genozidären Täter ruhig und gut, litten keineswegs an Alpträumen. Man finde unter den « Henkern » Menschen aller Arten, sehr unterschiedliche Personen.

Sie empfinden dann das Töten als einen Job, das Töten werde so zu einer schrecklich und verabscheuungswürdig einfachen Handlung, weniger eine Frage der Ideologie als eine des sozialen Kontextes. Rechtman bezog sich auch auf Hannah Arendt (vgl. Rechtman, Kapitel III.). 

 

Die Initiatoren des Völkermords müssten gesellschaftliche Bedingungen schaffen, die kollektive Wahrnehmung derart verschieben, dass die Personen, die getötet werden sollen, nicht mehr als Menschen gesehen wird. Dann werde das Töten einfach, Das Moralgefühl verschiebt sich dahin, wo es die Gesellschaft wertschätzt.

Das gelte – führte Rechtman aus – auch für die europäische Gegenwart. Viele von uns Heutigen wenden – angesichts des Sterbens von Flüchtlingen im Mittelmeer – den Blick ab (vgl. Rousset, a.a.O.). 

 

 Im Juli 2015 (erst) wurde Oskar Gröming (*1921, damals  93 Jahre alt) – ein ehemaliger SS-Mann in Auschwitz (zuvor HJ-Mitglied, NSDAP- und Waffen-SS-Mitglied) vom Landgericht Lüneburg wegen „Beihilfe zum Völkermord“ in 300 000 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren verurteilt (vgl. Schlott, 2016 b, S. 72, a.a.O.).

 Gröming verwaltete von 1942-44 das Geld, das in Auschwitz den Ermordeten abgenommen wurde, auch war er mehrfach dabei, als die Deportierten aus den Zügen getrieben wurden: Der Lüneburger Richter urteilte: „In Auschwitz durfte man nicht mitmachen“ (zit. n. Schlott, 2016 b,  S. 72, a.a.O.).

 

Opfer von Völkermorden

 

Kristin Platt, Sozialpsychologin an dem Bochumer Institut führte aus, dass die Traumata der Genozid-Überlebenden „nicht heilbar“ seien: „Die traumatisierten Menschen wissen, ihr Leid wird nicht aufhören. Aber das Erzählen gibt ihnen Sicherheit. Denn ihre Geschichte nimmt einen wichtigen Platz in unserer Erinnerung ein“ (vgl. Platt, zit. n. Schlott, 2016 b, S. 77, a.a.O.). 

 

Strafverfolgung von Völkermord

 

 

Am 1. Juli. 2002 trat das römische Statut in Kraft, die Grundlage des. 1998 eingerichteten permanenten, unabhängigen Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH), der zuständig sein sollte für Verbrechen gegen die Menschlichkeit, für Kriegsverbrechen für Aggression und Völkermord.

 

Vorläufer des IStGH waren neben dem Nürnberger Tribunal u. a. das UN-Jugoslawien-Tribunal (1993) oder das UN-Ruanda-Tribunal (1994), Gerichte, deren Verfahren auch zur Verurteilung wichtiger Täter führten (vgl.  Nowak, S.6, a.a.O.). Bemerkenswert und neu war die Regelung, dass es bei Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof keine Immunität für aktive PolitikerInnen gibt.

 

Allerdings haben eine Reihe mächtiger Staaten (wie die USA, China, Russland, Indien oder auch Israel, die Türkei und die Ukraine) das Weltgericht nicht anerkannt oder den Vertrag nicht ratifiziert. Frankreich versuchte vergeblich Kriegsverbrechen von der neuen Gerichtsbarkeit auszuschließen (vgl. Bourdon, S. 7, a.a.O.). 

 

Geschwächt wird der IStGH und seine Tätigkeit durch die Macht des UNO-Sicherheitsrates: „Die einzige Möglichkeit, universal und unabhängig von Staatsgebiet und Staatsangehörigkeit tätig zu werden, liegt in den Händen des Sicherheitsrates und seiner fünf ständigen Mitglieder. Und die können mit ihrem Vetorecht verhindern, dass die Anklagebehörde eingeschaltet wird, wenn sie ihre eigenen Interessen oder die ihrer Verbündeten berührt sehen“ (Bourdon, S. 7, a.a.O.). So haben Vetos der russischen Regierung mehrfach verhindert, dass der syrische Präsident Al-Assad wegen Kriegsverbrechen angeklagt wurde.

 

Seit Jahren bemühen sich einige NGOs und Staaten das Vetorecht bei der Anklageerhebung vor dem Internationalen Strafgerichtshof durch eine Reform der UNO abzuschaffen.

 

Wegen Völkermord wurde bislang niemand durch den Internationalen Strafgerichtshof verurteilt.

 

Seit 2002 jedoch gilt z.B. in der Bundesrepublik das Völkerstrafgesetzbuch (VStGB), für Taten, die nach dem Statut des IStGH strafbar sind: Sie verjähren niemals, für die Ermittlungen ist die Generalbundesanwaltschaft zuständig.

 

So wurde z. B. im Sommer 2022 weltweit das erste Mitglied des „Islamischen Staates“ wegen Beihilfe zum Völkermord an den JesidInnen im Irak verurteilt.  Der Generalbundesanwalt Peter Frank nannte das Urteil „ein internationales Novum":Soweit ich weiß, ist zum ersten Mal ein Gericht zu dem Schluss gekommen, dass der IS einen Völkermord an den Jesiden begangen hat“ (Az. 3 StR 230/22). In früheren Strafverfahren gegen IS-RückkehrerInnen war es v. a. um den Vorwurf der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, nicht um einen Völkermord-Vorwurf gegangen. Der Bundesgerichtshof hat 2023 die lebenslange Haftstrafe eines IS-Kämpfers wegen Völkermordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch schwere Misshandlung zweier Jesidinnen weitgehend bestätigt

 

 

 

Das „Verbrechen der Aggression“ wurde nach langen Diskussionen erst 2010 auf einer Folgekonferenz in Kampala in das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs eingefügt. Der Begriff „Aggression“ wird in dem Römischen Statut definiert als Planung, Vorbereitung und Ausführung eines bewaffneten Angriffs, Besetzung eines Staates ohne Autorisierung durch den Sicherheitsrat. Am 2. März 2022 beschloss die UN-Generalversammlung mit 141 gegen 4 Stimmen (bei 35 Enthaltungen) den russischen Angriff auf die Ukraine als Aggression scharf  zu verurteilen.

 

Wegen Aggression kann Putin nicht vor den Internationalen Strafgerichtshof angeklagt werden, denn weder Russland noch die Ukraine haben die Jurisdiktion des Gerichts hinsichtlich des Verbrechens der Aggression anerkannt (vgl. Nowak, S. 6, a.a.O.).

 

 

 

Der österreichische Jurist Manfred Nowak (* 1950) ist Professor für Internationales Recht und Menschenrechte an der Universität Wien und war von 2004 bis 2010 UN-Sonderberichterstatter für Folter. Nowak bezweifelt, dass es der russischen Führung primär darum ginge, das ukrainische Volk ganz oder teilweise auszurotten. Zudem warnt er vor einem inflationären Gebrauch des Begriffs Völkermord (vgl. Nowak, S. 6, a.a.O.).

 

 

 

 


[1] Mihran Dabag ist Historiker und Philosoph, er leitet das Institut für Diaspora- und Genozidforschung an der Universität Bochum. Dort sind – interdisziplinär – Wissenschaftler verschiedener Richtungen tätig, so Literatur- und Politikwissenschaftler, Historiker und Sozialpsychologen.

[2] In den meisten Bantu-Sprachen (wie z.B. im Tswana oder im Suaheli/Swahili werden alle Nomen in bestimmte Klassen eingeteilt, die durch Präfixe gekennzeichnet sind; sie bewirken aber auch eine Pluralbildung und semantische Veränderungen. Im Swahili z.B. weist das Präfix ki- hin auf die Sprache (aber auch auf Werkzeuge und andere Objekte): „Kisuaheli“ = das Suaheli oder „Kidachi“ = das Deutsche (vgl. Wendt, S. 21, a.a.O.). Die Präfixe variieren, im Tswana deutet das Präfix Se- eine Sprache an.

Auch das Wort „Bantu“ ist durch eine Präfigierung gekennzeichnet:

„tu“ (oder „du“) = Mensch; die Klasse der Menschen wird durch das Präfix „m“ (oder„n“) angedeutet; die Pluralform entsteht durch die Präfixe „Ba“ (oder „wa“), also: „Bantu“ = Menschen (vgl. Wendt, S. 22, a.a.O.).

Die Bantu-Sprachen sind eine große in ganz Zentral-, Ost- und Südafrika verbreitete Sprachfamilie, deren Sprachen eng miteinander verwandt sind. Typisch ist, dass einem Wortstamm ein Präfix vorangestellt wird. Bei Verben ändert sich durch Präfigierung die Person, die Zeit oder der Modus.

Bei dem Wortstamm „Tswana“ wird so u.a. gebildet:

„mo-tswana“ =  „ein Tswana

„ba-tswana“ = „mehrere Tswana“

„se-tswana“ =  „die Tswana-Sprache“

 „bo-tswana“ =  „das Land der Tswana (vgl. Iwanowski, S. 51, a.a.O.).

Basutoland“ heißt seit 1966 „Lesotho“, „Land der Sotho-sprechenden Menschen“; nach dem Volk der „Basotho“ mit der Sprache „Sesotho“.    

 Swasiland“ heißt seit 2018 „Eswatini“, „Land der Swasi“, mit der Sprache „Si-Swati“.


[3] Geprägt hat den Begriff „Shifting baselines“ der franz.-kanad. Meeresbiologe Daniel Pauly (* 1946); er beschrieb das Phänomen einer kollektiven Wahrnehmungsverschiebung durch sich mit der Zeit verändernde Umweltbedingungen, eine wechselnde Definition von Normalität, die Setzung eines neuen Referenzpunktes. Pauly selbst verdeutlichte das Phänomen am Beispiel des Fischbestandes eines Gewässers: Die Definition eines "normalen" Fischbestandes verschiebe sich von Generation zu Generation, weil das Wissen darüber, was vor Jahrhunderten normal war, verloren geht.

[4] Vom gr. προσωπίς (prosōpís)“  Maske, Gesicht, und γράφειν (gráphein)  schreiben; in der Geschichtswissenschaft die systematische Erforschung eines bestimmten, nach Raum und Zeit abgesteckten Personenkreises.

[5] Der US-amerikanische Soziologe und Hochschullehrer in Los Angeles Jack Katz (*1944) legte bei der Entstehung von Kriminalität den Fokus auf die positiven Reize von Straftaten: Auf das „Erlebnis“ Kriminalität aus Sicht des Täters, also auf die Emotionen und Sinneseindrücke, die zur Tat führen oder während der Tat entstehen (vgl. Katz, a.a.O.). In seiner Sicht können kollektiv erlebte Ängste, Demütigungen und Wut zu selektiver moralischer „Blindheit“, zu „Righteous Slaughter“, zu als rechtschaffen empfundenem Morden (z.B. in Vietnam) führen. 

 


 © Christian Meyer