Tschuktschisches Zelt – Jaranga (Abb. aus Tischner, S. 155, a.a.O.).

In den tschuktschischen Zelten gab es in der Mitte einen rechteckigen durch Felldecken abgeteilten Raum, der im Winter durch Tranlampen erwärmt und erhellt werden konnte. Der „Tschottagin“, der ungeheizte Teil der Jaranga, wurde u.a. zur Lagerung von Lebensmitteln genutzt. Die Tranlampe bestand aus einer flachen halbmond- oder nierenförmigen aus Speckstein geschnitzten Schale mit hochgezogenem Rand. Der z.B. Seehundtran wurde in den hinteren, gewölbten Teil der Schale gegossen, an der Vorderseite wurde als Docht trockenes, zu Klümpchen geformtes Moos angezündet. Der Docht der Tranlampe mußte von Zeit zu Zeit mit einem Szab gerichtet werden (vgl. Rytchëu, S. 48, a.a.O.). In Rytchëus Roman befahl die operierende Schamanin „tur besseren Beleuchtung … noch ein paar Tranlampen in den Schlafraum zu bringen.“ (Rytchëu, S. 64/65, a.a.O.).

Ohne die Tranlampe wäre das Überleben in der winterlichen Arktis unmöglich gewesen.  

 

Arktischer Feuerbohrer (Abb. aus Tischner, S. 47, a.a.O.

 

Der hölzerne Drillbohrer wurde durch rasches Hin- und Herziehen der Lederschnur betätigt. Um 1900 wurde Feuer überwiegend noch traditionell mit dem Drillbohrer entzündet: Eine Tschuktschin ließ „… das Ende eines Stabes in der Vertiefung eines Brettes rotieren… Nach kurzer Zeit sprühten Funken, und ein bläuliches Flämmchen züngelte, das zum trangetränkten Häufchen Moos in der Lampe getragen, lustig zu flackern begann“  (Rytchëu, S. 57, a.a.O.). Die Benutzung von importierten Streichhölzern verbreitete sich erst langsam unter den Tschuktschen.

 

Petroglyphen von Pegtymel (Abb. aus Kitiyak, a.a.O.)

Ruderboot von der St. Lorenz-Insel (vgl. Karte; engl. St. Lawrence Island; heute zu Alaska gehörend); Lithographie von Ludwig Choris; (Abb. aus Chamisso, 2012, S. 512, a.a.O.)

 

Abb.: „Tschuktschis vor ihren Zelten“; Lithographie von Ludwig Chordis (Abb. aus Chamisso, 2012, S. 155, a.a.O.).

 

 

Abb.: Tschuktschische Rahmenschneeschuhe, (Abb. aus Tischner, S. 157, a.a.O.)

 

 

Die Rahmenschneeschuhe dienen dazu, den Träger vor dem Einsinken im tiefen Schnee zu bewahren.

 

Tschuktschen

 

Die Tschuktschen sind ein paläosibirisches Volk auf der Tschukotka-Halbinsel, ganz im Nordosten Sibiriens, an der Beringstraße.

Die Bezeichnung „Tschuktschen“ kommt von dem tschuktischen Begriff „tschachtschen“ „Rentierbesitzer“ (vgl. Stöhr, Bd. III, S. 120, a.a.O.). Die Selbstbezeichnung der Tschuktschen lautet „Lygorawetljane“ „wirkliche Menschen“, die der tschuktschischen Sprache „Legewetgaw“ „echte Sprache“.

 

Der Dichter, Naturforscher, kosmopolitische Aufklärer und (spätere) Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften Adelbert von Chamisso (1781 - 1838) lernte während seiner „Reise um die Welt“ 1816 schon südlich der Beringstraße in Petropawlowsk eine „Baidare“ kennen: „… ein offenes, flaches Boot, das aus leicht gezimmertem, mit Robbenhäuten überzogenen, hölzernen Gerippe besteht und beim Übernachten auf dem Lande als Zelt oder Schutzwehr gegen den Wind gebraucht wird“ (Chamisso, o.J., S. 273, a.a.O.).

Chamisso bemerkte, dass die Tschuktschen mit ihren Baidaren sehr geschickt umgingen: „Sie ruderten auf ihren leichten Fahrzeugen viel schneller als unsere Boote, und belustigten sich, unsere matrosen vergeblich mit ihnen wetteifern zu sehen“ (Chamisso, o.J., S. 280, a.a.O.).

 

Nach der tschuktschischen Tradition stammen sie selbst (wie auch die benachbarten Eskimos) und die Wale von einem besonders schönen jungen Mädchen ab, in das sich ein großer Grönlandwal, Rëu, verliebte. Dieser nahm Menschengestalt an das Mädchen gebar in der Folge Menschen- wie auch Waljunge. Lange Zeit hätten dann die Tschuktschen keine Wale, ihre Brüder, gejagt. Erst nachdem ein Jäger auch einen Wal erlegt hatte, begannen auch die Menschen sich gegenseitig zu töten (vgl. Rytchëu, S. 137, a.a.O.).

Die Urmutter, Nau, wird auch heute noch als Begründerin der Tschuktschen als „Weiße Frau“ verehrt. 

Nach tschuktschischer Vorstellung hatten alle Tiere unter den Menschen Verwandte (Rytchëu, S. 145, a.a.O.), auch von daher wurde Tiere nur als benötigte Nahrung, nicht unnötig getötet (vgl. Rytchëu, S. 143, a.a.O.).

 

Fliegenpilze (oder Fliegenblätterpilz; bot.Amanita muscaria) sind von altersher wegen ihrer rausch- und  ekstase-auslösenden Eigenschaft.in Nordeuropa und Nordasien ein weit verbreitetes Mittel, um sich in Trance zu versetzen. In Ostsibirien ist der Fliegenpilz am häufigsten auf der Halbinsel Kamtschatka anzutreffen, von wo ihn Händler auch zu den Tschuktschen brachten. Fliegenpilze waren (sind?) in Ostsibirien sehr hoch geschätzt, so „… daß manchmal ein einziger Pilz gegen ein Rentier getauscht wird“ (Knoll-Greiling, S. 538, a.a.O.).

 

Der Fliegenpilz  wurde auch bei den Tschuktschen (wie den Ostjaken und Kamtschadalen) als Rauschmittel gekaut, z.T auch urinal getrunken (die Rauschwirkung entfaltet sich dann ungestörter).

 

Zumindest bei den Kamtschadalen war neben der schamanistischen auch eine hedonistische Verwendung des Fliegenpilzes verbreitet.

 

Die Tschuktschen nahmen traditionell an, dass der Polarstern ein Himmelsloch sei, durch das die drei Welten miteinander verrbunden seien. Die Schamanen und mythischen Helden könnten daduch mit dem Himmel kommunizieren (vgl. Chevalier, S. 419, a.a.O.). 

 

 

Nach traditioneller Vorstellung bewohnten die Toten das Nordlicht (Evans-Pritchard, Bd. III, S. 267, a.a.O.).

Chamisso berichtet, wie Teilnehmer der russischen Expedition 1816 „… Grabmäler der Eingeborenen“ an der Beringstraße beraubten und zerstörten: „Unsere habsüchtige Neugierde hat diese Grabmäler durchwühlt, die Schädel sind daraus enwendet worden. Was der Naturforscher sammelte, wollte der Maler, wollte jeder für sich sammeln. Alle Gerätschaften, welche die Hinterbliebenen ihren Toten mitgegeben, sind gesucht und aufgelesen worden … Aber hätten dieses Volk, um die geschändeten Gräber seiner Toten zu den Waffen gegriffen: wer mochte da die Schuld des vergossenen Blutes tragen?“ (Chamisso, o.J., S. 270, a.a.O.). Allerdings hatte Chamisso selbst von den Aleuten drei menschliche Schädel „… eigenhändig aus über der Erde liegenden Gräbern der Eingeborenen mit sich nach Berlin“ gebracht (Glaubrecht, in Chamisso, 2012, S. 455, a.a.O.).   

 

 

 

Mircea Eliade wies darauf hin, dass bei den kosmogonischen Mythen „… im äußersten Osten Sibiriens … (Samojeden, Tschuktschen, Jukagiren)“ dualistische Vorstellungen weit verbreitet sind. Dem Schöpfergott steht eine gegnerische Figur gegenüber, der es gelingt, „… das Böse in die Welt einzuführen … Daher erweist … (diese) sich als Feind Gottes sowohl wie der Menschen“ (Eliade, 2002, S. 30, a.a.O.).

 

Bei den Tschuktschen gilt der Schwan als ein Avatar, eine andere körperliche Manifestation der Seemöwe (vgl. Chevalier, S. 332, a.a.O.).  

 

 

Schon Chamisso beschrieb, dass 1816 die Bewohner an der Beringstraße versuchten, Tabak von den Expeditionsteilnehmern zu erhalten und bereit waren, für wenige Blätter Tabak ihre aufwendig hergestellten Kleidungsstücke zu tauschen (vgl. Chamisso, o.J., S. 274/75, a.a.O.).

Auch in dem Roman von Rytchëu werden eine ganze Reihe von Veränderungen in der traditionellen Gesellschaft der Tschuktschen beschrieben, sei es durch importierte industrielle Produkte, sei es durch sich individualisierende Haltungen von Tschuktschen:

 

Durch Importe „sehr begehrt“ waren schon vor dem 1. Weltkrieg z.B. Nähnadeln, Äxte, Sägen, Kochkessel, Gewehre, Munition, Tabak, Tee, Schnaps („närrisch machendes Wasser“, Rytchëu, S. 7 und 34, a.a.O.), aber auch beispielsweise Eisenbeschläge für die Bremsstöcke von Hundegespannen im Eis (Rytchëu, S. 28, a.a.O.).

Der ambivalente Charakter der importierten Objekte wird in dem Roman angesprochen; einerseits erleicherten diese Produkte das Leben der Tschuktschen, andererseits: „All die neuen Dinge, die die weißen Männer an die Küste der Tschuktschen brachten, machten das Leben nur schwieriger“ (Rytchëu, S. 35, a.a.O.). Denn all diese Waren mussten teuer ertauscht werden.

 

 

 

Juri Rytchëu (1930-2008) war der erste Schriftsteller des kleinen arktischen Volkes der Tschuktschen. Geboren wurde er als Sohn eines Jägers und Fischers in Uëlen an der Beringstraße. Geboren wurde er in einer „Jaranga“, dem traditionellen tschuktschischen Rundzelt mit Felldecken, einem rechteckigen Innenraum und einem ungeheizten Teil, der „Tschottagin“. Er war ein Enkel eines Schamanen, der 1946 unter Stalin ermordet wurde.

Rytchëu besuchte ein örtliches Lehrerbildungsinstitut, studierte dann als offizieller Delegierter des Nationalkreises der Tschuktschen bis 1954 an der Fakultät der Nordvölker in Leningrad. Dort übertrug er u.a. Werke Puschkins, Tolstois und Gorkis ins Tschuktschische.

Seine ersten Erzählungen schrieb er in tschuktschischer Sprache und übersetzte sie selbst ins Russische. Im Laufe seines Lebens machte Rytchëu sprachlich jedoch eine Entwicklung vom Tschuktschischen zum Russischen hin und übersetzte seine Prosa nur noch selten ins Tschuktschische.

1967 trat Rytchëu der KPdSU bei, jahrelang folgte er in seinen Publikationen den Parteilinien und dem gewünschten „Realismus“. Rytchëu sprach fließend Englisch und reiste als „Kulturbotschafter“ vielfach auch in westliche Länder, hielt z.B. Vorträge in den USA.

Mit den „Tauwetter“-Perioden veränderte Rytchëu seine Haltung. Wahrscheinlich wurde er beeinflusst von den Derevenshchiki, den „Dorfschriftstellern” (wie z.B. Walentin Grigorjewitsch Rasputin, 1937 - 2015),  der z.B. in seinem 1976 erschienenen Roman „Abschied von Matjora“ den Untergang eines sibirischen Dorfes in einem Stausee beschrieb.

Rytchëu änderte nun auch seine literarische Beschreibung der Tschuchotka, er würdigte die oralen Traditionen, Mythen und Bräuche, wie auch den Schamanismus. Während und nach der Perestroika übte er offene Kritik, indem er z.B. die Politik gegenüber den indigenen Völkern in der Sowjetzeit als „stillen Genozid“ verurteilte.

Juri Rytchëu selbst meinte bei einer Buchlesung in Berlin: "Die Tschuktschen, ein heute von den Russen vergessenes Volk, sind wie viele kleine Völker des Hohen Nordens vom Aussterben bedroht." (vgl. http://www.reller-rezensionen.de/belletristik/rytcheu-der_letzte_schamane.htm)

 

Seine letzten Lebensjahrzehnte verbrachte Rytchëu teilweise in Anadyr (der Hauptstadt des Autonomen Kreises der Tschuktschen [1]) , überwiegend aber in Leningrad / St. Petersburg, wo er auch starb. Begraben wurde Rytchëu auf dem Komorovskoje Friedhof bei St. Petersburg, auf dem viele sowjetische/russische Wissenschaftler und Künstler beerdigt wurden.

 

Chronologie:

 

ca. 2000 v. Chr.: Die ersten Rentiere werden domestiziert (vgl. Evans-Pritchard, Bd. III, S. 144, a.a.O.),
wo dies geschah, ist unklar. Frühzeitig hielten sich im Osten Sibiriens die Ureinwohner der Tschuchotka auch Schlittenhunde.

 

um 1000 - 500  v. Chr. : Vermutlich von Vorfahren der Tschuktschen verfertigen nahe der Mündung des Flusses Pegtymel (ca. 150 km östlich der heutigen Stadt Pewek und ca. 40 – 50 km von der Küste des Ostsibirischen Meeres) an steilen, z.T. senkrechten Felswänden, einzelnen Steinen und Felshöhlungen die wohl die nördlichsten Petroplyphen der ganzen Welt  (vgl. Kiriyak, S. 242, a.a.O.).  Die über 350 steinzeitliche Felszeichnungen stellen u. a. Wale, Robben, Eisbären, Rentiere, Rentierjäger mit Speeren und Harpunen sowie Booten dar. Die Zeichnungen entstanden z.T. durch Abschleifung und Einritzung mit Steinwerkzeugen. 

Vor allem seit dem Beginn des 21. Jhdts. untersuchte eine Feldforschungsgruppe von Archäologen der Russischen Akademie der Wissenschaften die Petroglyphen.

 

12. – 14. Jhdt: Wanderung der turksprachigen Jakuten (vermutlich aus dem Gebiet der heutigen Burjäten) nach Norden, v.a. im Lena-Tal, u.U. unter dem Druck der Mongolen; die ansässige Bevölkerung wird z.T. assimiliert, z.T. nach Norden und Osten verdrängt.  

 

ca. 14. - 16. Jhdt. n. Chr.: Auf der wohl nie dauerhaft bewohnten Insel Yttygran (vor der südöstlichen Küste der Tschuktschen-Halbinsel in dem Beringmeer) entsteht an der Nordküste die ca. 400 m lange „Walallee“:  Zwei parallelen Reihen in Gruppen angeordneter 47 Schädel von Grönlandwalen sowie -  als Pfosten in den Boden eingegraben – Kiefer- bzw. Rippenknochen von riesigen Grönlandwalen. Die Walrippen ragen dabei bis zu 5m in die Höhe. An einem benachbarten Hang werden ca. 120 trichterförmige Vorratsgruben für Walfleisch und –blubber angelegt.

Außerdem wird ein ca. 50 m langer mit Steinen gepflasterter Weg errichtet, der an einem ebenen runden Platz von 4 bis 4,5 m Durchmesser endet. Der Platz ist umgeben von einem Steinkreis. Die Mitte des Steinkreises bildet eine Feuerstelle mit Asche (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Yttygran).

 

1639: Erste russische Truppen erreichen den Pazifik. Hauptziel der russischen Expansion in Nordsibirien – oft in Zusammenarbeit mit lokalen Oberschichten -  war das „… regelmäßige Eintreiben des Pelzjasak“, einer Art Steuer in Form von Pelzen (u.a. der wertvolle Zobel), aber auch Walroßzähnen und Edelmetallen (vgl. Kappeler, S. 39, a.a.O.). Juri Rytchëu erzählt in seinem ab 1911 spielenden Roman „Traum im Polarnebel“, dass die Tschuktschen den Yasak nach „Gutdünken“ zahlten: „Wer will, der zahlt … Als Geschenk für den Beherrscher der Sonne, den russischen Zaren“ (Rytchëu, S. 218, a.a.O.).

 

1648: der russische Hafen Ochotsk am Pazifik wird gegründet

 

Der russische Kosak und Entdecker Semjon Iwanowitsch Deschnjow (ca. 1605 -  1673, in Moskau, vgl. Abb. unten) umsegelt auf einer Expedition von der Kolyma-Mündung aus die Tschuktschen-Halbinsel und entdeckt das später nach ihm benannte Ostkap Asiens sowie das Beringmeer. So hatte er  80 Jahre vor Vitus Bering und 130 Jahre vor James Cook bewiesen, dass es keine Landverbindung zwischen Asien und Amerika gibt.

Der Reisebericht Deschnjows wurde allerdings erst 1736 bekannt, als der deutsch-russische Historiker Gerhard Friedrich Müller (1705 – 1783, der „Vater der sibirischen Geshcichtsschreibung“) den von Deschnjow verfassten Reisebericht im Archiv von Jakutsk entdeckte. Der Gouverneur von Jakutsk hatte den Bericht zuvor nicht weitergeleitet.

 

1689: Die „Tschuchotka“ ist – wie die Halbinsel Kamtschatka – noch nicht dem Russischen Zarenreich zugehörig (vgl. Kappeler, S. 37, a.a.O.). Die Tschuktschen leisten langanhaltenden, erbitterten Widerstand gegen die Integration ins Russische Reich.

 

Die traditionelle gesellschaftlich Ordnung der Ethnien in Nordostsibirien wird durch die neuen Waffen, den Schnaps, Seuchen (v.a. die Pocken und die Syphilis) und die Missionierungsversuche erschüttert. Die orthodoxe Missionierung erfolgt z.T. auch durch materielle Anreize und Gewalt, bleibt aber im Ergebnis meist oberflächlich. Die Tschuktschen bleiben von all diesen Erscheinungen bis zum Ende des 19. Jhdts. relativ unberührt.

 

1789: Einige Tschuktschen beginnen mit der Zahlung von Abgaben an die Zaren, „… 150 Jahre später als die meisten benachbarten Stämme“ (Evans-Pritchard, Bd. III, S. 263, a.a.O.).

Noch 1816 führte Chamisso aus: Die Tschuktschen „… sind in ihren Bergen ein unabhängiges Volk und nicht geknechtet. Sie anerkennen die Oberherrschaft Rußlands nur insofern, daß sie den Tribut auf den Marktplätzen bezahlen, wo sie zu wechselseitigem Vorteil mit den Russen handeln“ (Chamisso, o.J., S. 280, a.a.O.).

 

1816: Im August des Jahres erreicht die russische Expedition zur Erforschung der Nordwestpassage auf der Brigg „Rurik“ unter der Leitung von Otto von Kotzebue (1787 – 1846), an der auch Adelbert von Chamisso als Naturwissenschaftler teilnahm, „… St. Laurenzbucht im Lande der Tschuktschi“ (Chamisso, o.J., S. 279, a.a.O.).  

„Die Tschuktschis empfingen uns am Strande, wie einen Staatsbesuch, freundschaftlich, aber mit einer Feierlichkeit, die uns alle Freiheit raubte“ (Chamisso, o.J. S. 279, a.a.O.). Einige der Tschuktschen besuchten auch das Schiff, fürchteten sich vor dem dortigen Spiegel, tauschten Geschenke aus. U.a. erhielten sie Nähnadeln und Branntwein. Die Expeditionsteilnehmer bekamen das Gewünschte, Trinkwasser und Rentierfleisch.   

 

28. August 1816: Chamisso erlebteund beschreibt einen Konflikt. Ein Tschuktsche brauchte dabei Gewalt gegenüber einem russischen Matrosen: Er entriß ihm „… mit gezücktem Messer eine Schere … Einer der ansässigen Tschuktschi sprang schnell hinzu und ergriff den Täter, den, als die Sache zur Sprache kam, sein Chef bereits bestraft hatte. Er wurde dem Kapitän gezeigt, wie er büßend in engem Kreise unablässig in gleicher Richtung gleich einem Manegepferd laufen musste; und der Vorfall hatte keine anderen Folgen, als uns zu zeigen, daß unter diesem Volke eine gute Polizei gehandhabt werde“ (Chamisso, o.J. , S. 283, a.a.O.).

 

 

1822: Seit den Verwaltungsreformen zählen auch die Tschuktschen zu den „inorodcy“ ( russ. „Fremdstämmig, Allogene“), die zwar den Yasak leisten, aber z.B. keine Rekruten stellen müssen. „Im ganzen war die Belastung der inorodcy geringer als die der russischen Bauern“ (Kappeler, S. 141, a.a.O.).

 

19. Jhdt.: Die westliche Region des heute autonomen Kreises um die Flüsstäler des Kleinen Anjui und des Keperweem werden von v.a. Russen übersiedelt; die Tschuktschen, die  dort seit 1000 lebten, werden verdrängt.

 

1897: Bei der Volkszählung im Russischen Reich wurden ca. 11800 Tschuktschen erfasst.

 

Ca. 1900: Der US-amerikanische Geograph, Evolutionsbiologe, Anthropologe und Pulitzerpreisträger Jared Diamond (* 1937) untersuchte in seinem Buch „Vermächtnis“ (a.a.O.) eine Vielzahl von traditionellen  Jäger- und Sammlergesellschaften hinsichtlich ihres Sozialverhaltens. Dabei stellte er u.a. fest, es gebe bei einer Reihe von „Naturvölkern“ keine Altersversorgung, vielmehr werden ältere Menschen getötet, wenn sie scheinbar keinen erkennbaren Nutzen mehr für die Gruppe haben und ihre Versorgung als zu kostspielig erscheint (vgl. Altentötung….). Die ältere Person wurde z.B. von den sibirischen Tschuktschen und Jakuten oder den nordamerikanischen Crow-Indianern zum Selbstmord aufgefordert. Noch am Anfang des 20. Jhdts. - wurde von Tschuktschen berichtet – entschied die Gruppe, wann die Zeit der Alten gekommen sei, und ihre Kinder forderten sie zum Suizid auf: Sie wurden in ein nicht seetüchtiges Boot gesetzt und ertranken. Diamond beurteilt dies Verhalten als eine rationale Lösung: „Eine Gesellschaft opfert ihre unproduktiven Mitglieder, damit nicht das Leben  aller gefährdet ist“ (Diamond 2012, S. 246 ff., a.a.O.).

 

10. Dezember 1930: Gründung  des Autonomer Kreises der Tschuktschen innerhalb der RSFSR

 

1929-33: Die Kollektivierungskampagne ist auch unter den Tschuktschen ein „… schmerzhafter Prozeß…, (der) bitteren Widerstand … und verheerende Verluste bei den Rentierherden“ heraufbeschwor (Evans-Pritchard, Bd. III, S. 268, a.a.O.).

Auf der anderen Seite wird durch die „Sowjetmacht“ das Tschuktschische zu einer Schiftsprache, geschrieben mit einem angepassten kyrillischen Alphabet. (Internats) Schulen werden gegründet, ein Alphabetisierungsprogramm durchgeführt. Eine lokale, tschuktschische Zeitung wird geründet, später auch örtliche Radio- und Fernsehstationen. „Andere ehemalige Rentierhirten wurden zur Universität … von Leningrad geschickt und nach und nach kamen … einige sowjetisch ausgebildete, ideologisch einwandfreie Ärzte, Lehrer und Naturwissenschaftler in die Heimat zurück“ (Evans-Pritchard, Bd. III, S. 268, a.a.O.).

 

1946: Der russische Geologe Juri Alexandrowitsch Bilibin (1901 – 1952) erhält für seine Verdienste um die Erschließung der Goldvorkommen in Nordostsibirien den Stalinpreis.

 

1955: Nach Goldfunden in der westlichen Region des Autonomen Kreises wird dort u.a. der Ort Bilibino gegründet, benannt nach dem Geologen Juri Bilibin.  Er wurde 1955. 1958 bekam Bilibino den Status einer städtischen Siedlung, die Stadtrechte erhielt es allerdings erst im Jahre 1993.

 

1966-1970: Bau des Atomkraftwerkes Bilibino (russ.  Билибинская АЭС, Kürzel БАЭС) nahe der gleichnamigen Stadt im Autonomen Kreis der Tschuktschen. Das Kraftwerk hat vier Blöcke, der vierte wurde 1976 erstmals kritisch.   

 

1979: Bei der sowjetischen Volkszählung werden ca. 14 000 Tschuktschen erfasst; in dem Gebiet leben aber ca. 2,5 Mio Rentiere.      

 

1992: Der Autonome Kreis der Tschuktschen hat  50.526 Einwohner, offizielle Sprachen sind Tschuktschisch, Russisch.

 

2002: Die Bevölkerung des Autonomen Kreises setzt sich zusammen aus  Russen (51,9 %), Tschuktschen (23,5 %), Ukrainern  (9,22 %), Eskimos  (2,85 %), und Ewenen (2,61 %).



[1] Autonome Kreise (russ. „Автономный округ“) sind russische (früher sowjetische) Verwaltungseinheiten mit einer gewissen Autonomie. Bis zur letzten sowjetischen Verfassung wurden sie offiziell Nationaler Kreis (russ. „Национальный округ“) genannt.  Im Jahre 2016 gibt es vier Autonome Kreise: den Autonomer Kreis der Tschuktschen, den der Chanten und Mansen (in Westsibirien), den der Nenzen (an der Küste der Barentssee) und den der Jamal-Nenzen (an der Ob-Mündung im nordwestlichen Sibirien).  Autonome Kreise umfassen große, nur dünn besiedelte Gebiete im Norden des Landes und in Sibirien. Meistens sind die namensgebenden „indigenen“ Völker in der Minderheit gegenüber den Russen.

Die Russische Föderation  gliedert sich (nach Art. 65 der russischen Verfassung)  in insgesant 85 „Föderationssubjekte“, nämlich 22 Republiken, 9 Regionen („Krai“), 46 Gebiete („Oblast“), drei Städte mit föderalem Rang (Moskau, St. Petersburg und Sewastopol auf der Krim), ein Autonomes Gebiet (das Jüdische Autonome Oblast um Birobidschan, am Amur) und die vier Autonomen Kreise.

 

 

© Christian Meyer

 

(wird ergänzt!)

 

 

Abb.:  „Tschuktschen“ (und Kamtschadalen sowie Korjaken); Darstellung aus den Abbn. der Ethnien des Russischen Reiches auf einer russischen Karte von 1866 (erschienen in St. Petersburg, ausgestellt im Berliner Deutschen Historischen Museum, bei der Ausstellung zur Russischen Revolution im Winter 2017; Photo: Karoline Schulz).  

 

Die Tschuktschen-Halbinsel (Abb. aus Evans-Pritchard, Bd. III, S. 260, a.a.O.).

Semjon Iwanowitsch Deschnjow auf einer russischen Briefmarke (2010)