Zur Schia

 

Die Ereignisse von Kerbala (vgl. Aschura) waren ein „… Vorfall, der ungeheure, bis auf den heutigen Tag spürbare Nachwirkungen hatte“, zum „schiitischen Schisma“ führte (Fück, S. 179 f. & 239, a.a.O.).  

 

Nach dem Tode Husseins bildeten sich vor allem im südirakischen Kufa Gruppen, die zur theologischen und politischen Keimzelle der Schia wurden, ohne aber einen Imam zu proklamieren.

 

Eine dieser Gruppen, die „Büßer“ (oder auch die „Bußfertigen“, ar. „at-tauwabun“), wollten „… ihr Versagen, al-Husain nicht zu Hilfe gekommen zu sein, dadurch büßen, dass sie sich im Kampf opferten“ (Schreiner, S. 4, a.a.O.), eine Art von kollektivem Selbstmord für die begangene Sünde vollzogen. 

 

Im Jahre 684 zog eine Gruppe dieser „Büßer“ von Kufa nach Norden, in Richtung Syrien, um sich selbst zu opfern, weil sie Hussein im Stich gelassen hatten. Wirklich wurden sie 685 von umayyadischen Truppen nahezu vollständig niedergemetzelt.

 

Vorstellungen von Schuld, Reue, Leiden und Opfer sind für einige Richtungen des schiitischen Islam (insbesondere die Imamiten) konstitutiv. Sie wurden auch zur Grundlage der Aschura-Rituale. Sie sind also nicht etwa Ausdruck von Trauer um den getöteten Imam, sondern eigentlich Ausdruck der Buße und Reue wegen der unterlassenen Hilfe.

 

Weitere Besonderheiten der Schia entwickelten sich in dieser frühen Zeit.

Einer dieser Faktoren wurde es, dass sich das Imamat sich bei ihnen nicht in direkter Linie vom Vater auf den Sohn in der Nachkommenschaft Husseins vererbt, sondern Imam wird man durch Designation, durch Bestimmung, Bezeichnung (arab. „naṣṣ“, wörtlich „Text“), wobei grundsätzlich alle Nachkommen ʿAlīs in Frage kommen. So wurde auch Ali selbst in der Sicht der Schia von dem Propheten Muhammad designiert (vgl. Id al-Gadir Humm).

 

Weitere schiitische Besonderheiten entwickelten sich während der Aufstände des al-Muḫtār und der Kaisaniya (683-5), bei denen Hussein durch militärische Gewalt gerächt werden sollte.

 

Als ein wichtiger Vertreter dieser aktionistischen Richtung trat in Kufa al-Muḫtār auf, der zwar Araber, aber kein Quraisch und so - nach allgemeiner Auffassung - für das Kalifat ungeeignet. Prätendent der Aufstandsbewegung war Muḥammad ibn al-Ḥanafīya, zwar ein Sohn Alis, aber nicht von Fatima, sondern von einer anderen Frau aus dem Stamme Hanifa. Er war somit kein Nachkomme des Propheten und mit diesem in direkter Linie nicht verwandt. Sein Anspruch gründete sich auf die Nachfolge ʿAlis, nicht die des Propheten.

 

In diesem Aufstand spielten zum ersten Mal in der islamischen Geschichte die Mawali – die wachsende Zahl nicht-arabischer Konvertiten - eine große Rolle. Einer der wichtigsten Vertreter war Kaisan, ein mawali von al-Muḫtār. Die rasch zunehmenden „Neumuslime“ erhielten anfangs den Status von Klienten, von freigelassenen Sklaven: „Denn alter Gepflogenheit gemäß war der Übertritt eines Nichtarabers zum Islam nur möglich, wenn er durch ein Klientenverhältnis einem arabischen Herrn oder Stamm affiliert wurde“ (Fück, S. 238, a.a.O.).

 

Viele „Neumuslime“ gingen in das Lager der Aliden, der Schia über, „… die ein Sammelbecken all derer war, welche eine Änderung der politischen Verhältnisse herbeiwünschten“ (Fück, S. 239, a.a.O.). Viele mawali erstrebten und erlangten schließlich die volle Gleichbehandlung mit dem Hinweis auf die Lehre von der Brüderlichkeit aller Muslime.

 

Des weiteren wurde der Prätendent Muḥammad b. al-Ḥanafīya (obwohl er im Hedschas blieb, nie nach Kufa kam und sich an dem Aufstand nicht beteiligte) erstmals als „Mahdī“ bezeichnet, ein Wort, das „der Rechtgeleitete“ bedeutete. In dieser frühen Zeit hatte der Begriff Mahdi noch nicht die eschatologische Bedeutung, die er später auch für Sunniten erhielt. Mahdi bezeichnete damals nur den rechtgeleiteten, im Gegensatz zu den irregeleiteten umaiyadischen Herrscher und dem Gegenkalifen Ibn az-Zubair in Mekka. 

 

Schließlich kann man während des Aufstandes erstmals die „Übertreiber“ (ġulāt) nachweisen. Sie sollen für ihren Mahdi einen geschmückten Thron aufgestellt haben, an dem sie in freudiger Erwartung schmückten feierten. Nach der Auffassung der „Übertreiber“ sind die Imame menschliche Hüllen, in denen die Gottheit Wohnung nimmt, dies „Einwohnen“, arab. „hulul“, entspricht in etwa der Vorstellung der Inkarnation. Die Gottheit wandert so von einer menschlichen Hülle zur nächsten; diese Sonderform der Seelenwanderung wird als „tanasuh“ bezeichnet. Vielfach wird vermutet, dass bei diesen „Übertreibern“ der frühen Schia vor-islamische Vorstellungen, insbesondere spätantike gnostische Ideen eine Rolle spielten.

 

Nach anfänglichen Erfolgen wurden die Aufständischen 687 von Truppen aus Basra besiegt, Muhtar wurde getötet.

 

Der alidische Prätendent, Muḥammad b. al-Hanafiya blieb unbehelligt, soll später sogar dem umayyadischen Kalifen gehuldigt haben und um 700 in Medina eines natürlichen Todes gestorben sein.

 

Nach dem Tode Muḥammad b. al-Hanafiyas jedoch kam es – wiederum wohl erstmala – zu einer Erscheinung, das die Geschichte der Schia jahrhundertelang prägen sollte: Viele seiner Anhänger glaubten nicht, dass ihr Imam sei tatsächlich gestorben sei. Sie glaubten vielmahr, er halte sich auf einem Berg oder einer Insel verborgen um zu gegebener Zeit erlösend wiederzukehren.

 

Bei diesem ersten Auftreten der Vorstellung von einer „Verborgenheit“ (gaiba) des Imams glaubte bis in die Mitte des 8. Jhdts. eine Gruppe an die Wiederkehr (raǧʿa) des Muḥammad b. al-Hanafiya.

 

Diese schiitische Gruppe wird auch Kaisānīya - nach dem erwähnten Hauptmann und mawlā des Muḫtār - genannt oder „Vierer-Schia“, weil sie vier Imame (Alī, Ḥasan, Ḥusain und eben Muḥammad b. al-Ḥanafīya) anerkannte. Heute existiert diese historisch bedeutsame Strömung nicht mehr.

 

Hussein Sohn und damit ein Urenkel des Propheten Muhammad, Ali ibn Hussein Zain al-Abidin (der 4. Imam der Zwölfer Schia) überlebte wegen einer Erkrankung die Schlacht von Kerbala. Er starb nach einem zurückgezogenen Leben in Askese und Gebet ca. im Jahre 712 und wurde in Medina bestattet[1]. Nach seinem Tode kam es zu einer ersten Spaltung in der entstehenden Schia. Ein Teil (wohl die Minderheit) erkannte Zaid ibn Ali als rechtmäßigen Nachfolger an, ein anderer Zweig seinen Bruder Muhammad al-Baqir (den 5. Imam der Imamiten, der Zwölfer-Schia und 4. Imam der Siebener-Schia).

 

Zweierlei Tendenzen traten unter der frühen Schia auf, eine aktionistische und eine eher quietistische.

 

Für die aktionistische Gruppe gab es für den „richtigen“ Imam das Kriterium des ḫurūǧ, (das „Heraustretens“). Gemeint war das Heraustreten aus dem Abwarten im Kampf um das Recht. Nach dem ḫurūǧ kann nur derjenige von den Nachkommen ʿAlīs und Fāṭimas der wahre Imam sein, der seinen Anspruch mit dem Schwert durchsetzt. Zaid ibn Ali vertrat – im Gegensatz zu seinem Bruder - die aktionistische Position.

 

 

In Bahrain bilden die Schiiten heute (ähnlich in der östlichen Provinz Saudi-Arabiens) die Mehrheit der Bevölkerung (ca. 65 - 70%), werden aber von der sunnitischen Dynastie al-Chalifa beherrscht und sind Bürger zweiter Klasse. In vielerlei Hinsicht sind die Schiiten sozial und politisch benachteiligt.

 

In Saudi-Arabien sind im Jahre 2015 von insgesamt ca. 27 Mio. Einwohnern ungefähr 2 Mio. Schiiten, eine diskrimierte Minderheit. Sie gelten den herrschenden Wahabiten als Abtrünnige vom rechten Glauben, schiitische Koranschulen sind strikt verboten.

 

 

Chronologie:

 

1959: Nimr Baqir al-Nimr wird in einer schiitischen Familie in Al-Awamia/Saudi-Arabien geboren.

 

seit 1980:  Nimr Baqir al-Nimr hält sich 10 Jahre lang zu theologischen Studien im Iran und später auch in Syrien auf. 1990 kehrt er mit dem Titel Ayatollah nach Saudi-Arabien zurück.

 

seit 2009: Nimr Baqir al-Nimr wird zum führenden schiitischen Prediger in seiner Geburtsstadt Al-Awamia. Im Arabischen Frühling setzt sich der Ayatollah für eine Gleichberechtigung der Schiiten und eine Demokratisierung des Landes ein.

 

Februar 2011: In Bahrain kommt es im Rahmen des „Arabischen Frühlings“ zu einer Protestbewegung der Schiiten, die zu blutigen Konflkten mit Polizei und Militär führten. Schließlich werden die Proteste aber durch eine saudische Militätintervention unterdrückt (vgl. Barthe, S. 4, a.a.O.).

 

2012: Verhaftung Nimr Baqir al-Nimrs als angeblichem Rädelsführer der Unruhen 

 

bis 2013: Bei blutigen Unruhen zwischen der saudischen Polizei und schiitischen Demonstranten werden viele der Protestierenden getötet, ihre Anzahl ist umstritten.

Nimr Baqir al-Nimr wird Separatismus, Propaganda für eine fremde Macht und Aufforderung zum Terrorismus vorgeworfen (vgl. ND, 5. Januar 2016, S. 2). Nimr Baqir al-Nimr betreitet die Vorwürfe.

 

Oktober 2015: Ein saudisches Gericht verurteilt Nimr Baqir al-Nimr zum Tode. Sein Bruder Mohamed fordert im Internet zu Protesten gegen da Urteil auf und wird auch verhaftet (vgl. ND, 5. Januar 2016, S. 2).

 

2. Januar 2016:  Zusammen mit weiteren 45 zum Tode Verurteilten wird Nimr Baqir al-Nimr hingerichtet. Es folgt ein internationaler Proteststurm.

 

 

 © Christian Meyer

 


[1] Das Grabesmausoleum von Zain al-Abidin auf dem al-Baqi Friedhof (südöstlich von der Propheten-Moschee in Medina) wurde im April 1926 von den wahabitischen Saudis zerstört, wie alle anderen dortigen Mausoleen. Muhammad ibn Abd el-Wahab (1703 – 1787) hatte jede Heiligenverehrung und jeden Gräberkult verworfen. Er erklärte „… jeden für einen Ungläubigen, der einen Heiligen anruft, um seine Fürsprache bittet, sein Vertrauen in ihn setzt, sich vor ihm niederwirft oder irgend eine andere Handlung ausführt, auf die Allah allein ein Anrecht hat“ (Fück, S. 206/207, a.a.O.).