Altgriechische Lenaia

 

Die Lenaia (gr. „Λήναια“, Lēnaia, auf Deutsch auch „Lenäen“) umfassten im antiken Griechenland – vornehmlich in Athen -  eine Prozession und dreitägige Festspiele zu Ehren des Gottes Dionysos.

Dionysos gehörte ursprünglich nicht zu den olympischen Göttern, jedoch erwarben seine Feste im demokratisch gewordenen Athen große Popularität und höchstes Prestige. Bei dem Zyklus der vier Athener Dionysos-Feste handelte es sich um die „ländlichen Dionysien“ (ca. Dezember bis Januar), die Lenäen (ca. Januar bis Februar), die Anthesterien (ca. Februar bis März) und den städtischen oder Großen Dionysien (ca. März bis April). Die ländlichen Dionysien und die Anthesterien hatten keine Bindung zum Theater. Dennoch war Dionysos ein Wein-, Vegetations-, Fruchtbarkeits- und Theatergott.

Wahrscheinlich waren die - vermutlich älteren - Lenäen ursprünglich ein winterliches Kelterfest (gr. „lēnós“ „Kelter“) des Dionysos. Lenäos („Kelterer") war vielleicht einst ein gesonderter Gott, wurde dann aber ein Beiname des Dionysos (vgl. http://www.retrobibliothek.de/retrobib/kuenstler/index_kuenstler_AE.html).

 

Das Fest fand mit starker Beteiligung der Frauen im attischen Monat Gamelion (Januar bis Februar; vgl. A. Mommsen, S. 46, a.a.O.) statt, ein Monat der früher auch in Athen Lenaion [1] genannt wurde. Die Mänaden, die weiblichen Anhänger, das Gefolge des Dionysos, wurden auch „ληναι“ genannt.  

Für die Lenäen sind nur die Prozession, die Tragödien- und Komödienwettbewerbe, keine  Dithyrambenchöre belegt. Es gab während der Lenäen auch Verspottungen, von den Festwagen herab, wie bei den Anthesterien (vgl. Mommsen, Heortologie, S. 341,  a.a.O.).

 

Mit den attischen Lenäen war ein musischer Agon [2] verbunden: Ab 442 v. Chr. fand der Wettbewerb der Komödiendichter statt (wie schon seit 486 bei den „Großen Dionysien").  Im Gegensatz zu den Dionysien lag bei den Lenäen – den Quellen nach - der Schwerpunkt bei den Komödien [3] , von denen fünf aufgeführt wurden, aber nur zwei Tragödien [4] (und keine Satyrspiele). Der tragische Agon wurde an einem Tag entschieden. Erster bekannter und siegreicher Komödiendichter der Lenäen ist Xenophilos, der ansonsten heute völlig unbekannt ist. Auch bei den Komödienschreibern wurde ein Sieg bei den Dionysien höher bewertet als der bei den Lenäen.

 

In Athen fanden die Lenäen wahrscheinlich  zuerst im Lenaion (einem als heilig angesehenen Bezirk des Dionysos Lenaios auf der Athener Agora, dem ältesten Heiligtum des Dionysos in Athen) statt; seit der Mitte des 5. Jhdts v. Chr. aber erfolgten die offiziellen Festlichkeiten im Dionysostheater [5] am Südostabhang der Akropolis.

Unter dem Athener Tyrannen Peisistratos (560-528) wurden im Jahr 534 einige  Vegetitionsrituale/Feste zu Ehren des Gottes Dionysos institutionalisiert, so auch die Lenäen, die Großen Dionysien und die Ländlichen Dionysien. 

 

Wann die Lenäen gefeiert wurden, ist umstritten. Der bedeutende  Altphilologe  und Festtagsforscher August Mommsen (1821 – 1913, der jüngere Bruder von Theodor Mommsen), bestimmte den Beginn der Lenäen auf den 20. Tag des Monats Gamelion (vgl. August Mommsen, Heortologie, S. 334, a.a.O.). 

Platons „Gastmahl“ fand wahrscheinlich zur Zeit der Lenäen statt und Alkibiades trug dort Veilchen („Violen“) in seinem Kranze (vgl. Platon, Werke, Bd. II/2, S. 310, a.a.O.), ein Indiz eher für einen frühen Frühlingstermin der Lenäen.  Gefeiert wurden die Lenäen, wenn der Wein bereits länger gegoren hatte, besser war.

 

Die britische Schriftstellerin und Historikerin Mary Renault (1905 – 1983) veröffentlichte 1966 ihren gut recherchierten historischen Roman „Die Maske des Apoll“, in dem ein fiktiven athenischer Schauspieler des 4. Jhdts. die Hauptperson ist. In dem Roman wird u.a. der Ablauf eines damaligen Lenäenfestes dargestellt. Zu jener Zeit waren Theateraufführungen noch nicht säkularisiert, sondern  religiöse Riten im Dienste des Gottes Dionysos. „Bei den Lenäen ist die Komödie Königin und eröffnet die Festlichkeiten. Danach kamen die verschiedenen Trilogien mit den Satyrspielen“ (Renault, S. 121, a.a.O.). Für die Wettbewerbe selbst war die zuvor stattfindende Auslosung der Reihenfolge der Spiele von Bedeutung, doch „… bei einem Winterfestspiel wie den Lenäen kann man erst am Tag selbst wissen, ob man Glück hat oder nicht. Ist es regnerisch oder weht ein scharfer Wind, gehen die älteren Leute oder die, die nur einen dünnen Mantel anhaben, bald nach Hause. Die anderen werden unruhig, stehen auf, um sich die Beine zu vertreten oder Ihre Bedürfnisse zu verrichten, ihre Gedanken sind halb bei der heißen Suppe, die sie zuhause erwartet, sie werden missgestimmt und kribbelig und man hat es schwer, ihnen zu gefallen. Ist das Wetter aber schön, dann hat man Publikum und Tag gewonnen. Die Sanftmut und Gunst des Theaterrunds an solchen Nachmittagen ist bei den Schauspielern sprichwörtlich. Zeus und  Dionysos und Apollo Helios erweisen sich für die vielen Opfer erkenntlich“ (Renault, S. 121, a.a.O.).

An dem Abend vor dem Fest wurden allerlei „mitternächtliche Riten“ durchgeführt, man hörte das „… Geschrei der Frauen, die durch die Straßenrennen und versuchen, es den Mänaden in den Bergen gleich zu tun und in aller Sicherheit, wie sie das bei den Lenäen tun, Gefahren mimen und den König Weinstock bekränzen, um ihn zu versöhnen, weil er gestutzt wird. Ihre Gesänge und ihr Iakchos-Schreien und das rote Licht der Fackeln“ beherrschen die Nacht (Renault, S. 121, a.a.O.).

Die Lenäen - wie die Dionysien - wurden vom Archon basileus (gr. ἄρχων βασιλεύς, „König“) geleitet, einem hohen städtisch-religiösen Amtsträger der Polis.  Die Riten bestehen  - fasste Aristoteles [6] zusammen - aus Festzug und Wettkampf, dem Agon. Den Festzug veranstaltet der „König“ gemeinsam mit anderen Regierungsbeamten, den Agon aber er allein. Er verantwortet auch alle Fackelläufe und hat ebenso die Schirmherrschaft über alle traditionellen Opfer (vgl. Aristoteles, Der Staat der Athener 57,1, a.a.O.) 

Die Tragödien im Theater waren von daher regelrechte Staatsakte: „… Auf den Ehrenplätzen saßen die Vertreter der ausländischen Mächte, die Archonten und die Choregen [7] mit ihren Gästen, die Sklaven mit Decken und Kissen beladen, um es ihnen bequem zu machen. Und dann kamen die Priester und Priesterinnen: die Priesterin der Demeter, die Priester des Zeus, des Apollon, des Poseidon, der Athene. Jetzt dröhnten Trommeln und Zimbeln; das Kultbild des Dionysos wurde hereingetragen und vor der Orchestra aufgestellt, wo es seine Diener sehen konnten. Sein Priester nahm den Stuhl in der Mitte ein, auf ein Fanfarenzeichen hin wurde es still im Theater. Außer Sichtweite, hinter dem Parodos, hörten wir die ersten Töne der Flöte, die zum Chor spielte. Ob man dahinter ist oder davor – es gibt nichts, was diesem Augenblick vergleichbar wäre“ (Renault, S. 124, a.a.O.).

In dem Roman siegte schließlich der Protagonist [8] und erhält den Efeukranz des Siegers und ein ansehnliches Preisgeld.

 

Bei den Lenäen traten die Komödienautoren besonders hervor, denn es ging in den Komödien oft um Tagespolitik, um Kritik und Verspottungen von Politikern, Künstlern, Philosophen und normalen Athener Bürgern. Bei den Tragödien hingegen  gab v.a. die griechische Mythologie [9] die Themen der Stücke. Bei beiden Typen von Aufführungen hatte der Inhalt meist nichts mit Dionysos zu tun.

Immer aber waren es neue Stücke die aufgeführt wurden. Im 5. Jhdt. v. Chr. wurden Tragödien und Komödien in Athen nur zweimal im Jahr, nämlich zu den Festen des Dionysos aufgeführt.

Jedoch wurde jedes Stück „… in der Regel nur an einem Dionysosfest gespielt …; die regelmäßige Wiederaufführung von Werken, die für einen bestimmten Anlass geschaffen worden waren, empfand man vermutlich als eine Unziemlichkeit gegenüber dem Gott. Wie er bei jeder Kulthandlung Anspruch auf neue Opfertiere hatte, so hatte er auch bei jedem Fest Anspruch auf noch nicht gespielte Stücke“ (Werner, Nachwort, S. 641, a.a.O.). 

 

(veränderlich, nach dem attischen Lunisolarkalender, wohl am 20. Tag des 7. Monats Gamelion; der Gamelion könnte am 23. Dezember 2014 begonnen haben, am Tag nach dem 7. Neumond nach der Sommersonnenwende 2015, nach einer anderen Überlieferung könnten die Lenäen auch vom 12. – 15. Tag des Gamelion stattgefunden haben)

 

© Christian Meyer



[1] In Ionien , auch in Milet lag der Monat Lenaios wie auch das dortige Weinfest am Ende des Herbstes. 

[2] Von gr. „agon“ ursprünglich „Versammlung“; dann sportlicher oder geistiger Wettkampf im antiken Griechenland; auch: Hauptteil der attischen Komödie. 

[3] Die antike Komödie hatte einen religiösen Ursprung: „Kom – edia“ „Lied beim Komos“, bei dem fröhlichen Festzug zu Ehren des Dionysos. Auffällig an den frühen antiken Komödien (so bei Aristophanes) ist eine gewisse Derbheit in Ausdruck und Sprache, auf „… dem Gebiet der Sexualia, Fäkalia, Verwünschungen, Schimpfwörter“. Diese „Unanständigkeit“ vieler antiker Komödien „… ist letztlich kultisch bedingt: sie geht auf fruchtbarkeitsfördernde Riten im Dionysos-Kult zurück“ (Werner, Nachwort, S. 646, a.a.O.). 

[4] Die Tragödie (gr. „Bocksgesang“) war ursprünglich Teil eines staatlich organisierten und geförderten Gottesdienstes für Dionysos, mit dem Auftritt eines Chors von bocksfüßigen Satyrn zum Dionysosfest.  Einst war ein Bock (gr. tragos) als Preis der Dionysien und als Opfer für den Gott ausgesetzt (vgl. Voit, Bd. 1, S. 133, a.a.O.). Zuerst wurde vor jeder Dionysien-Aufführung in einem Dithyrambos des Dionysos gedacht.  

Der junge außerordentliche Philosophieprofessor Friedrich Nietzsche ging in seiner 1869-71 verfassten „Geburt der Tragödie“ davon aus, „… dass die griechische Tragödie in ihrer ältesten Gestalt nur die Leiden des Dionysus zum Gegenstand hatte und dass der längere Zeit hinweg einzig vorhandene Bühnenheld eben Dionysus war. Aber mit der gleichen Sicherheit darf behauptet werden, dass niemals bis auf Euripides Dionysus aufgehört hat, der tragische Held zu sein, sondern dass alle die berühmten Figuren der griechischen Bühne, Prometheus, Ödipus usw. nur Masken jenes ursprünglichen Helden Dionysus sind“ (Nietzsche, Bd. 1, S. 14/15, a.a.O.).

[5] Alle uns bekannten Tragödien des Aischylos, Sophokles und Euripides wurden im Dionysostheater aufgeführt. 

[6] Die Autorschaft der um 330 v. Chr. entstandene Schrift „Der Staat der Athener“ (Athenaion politeia) ist unsicher.

[7] Choregen sind diejenigen Mäzene, „… die mit ihrem Gelde einen Chor in der Tragödie ausrüsten“ (Aristoteles, Politik, 1229a, S. 155, a.a.O.).

[8] Protagonist von gr. „protagonistes“ eigentlich „erster Kämpfer“, dann aber erster Schauspieler, Hauptdarsteller im altgriechischen Drama.

[9] Schon 472 v. Chr. errang Aischylos mit den „Persern“ den 1. Preis im Wettbewerb (der Großen Dionysien), das älteste bekannte zeitgenössische Drama, zudem das älteste erhalten gebliebene Drama.